Rasmussens letzte Reise: Roman (German Edition)
etwas Vergleichbares zu finden.«
Als er die Besprechung beiseite legte, hatte sich die Zufriedenheit, die sich zunächst in ihm regte, bereits in ihr Gegenteil verkehrt. Er vernahm einen Lockruf in dieser Rezension. Hatte er sich nicht gerade mit dieser leichten Schönmalerei auseinanderzusetzen, mit seinem eigenen schlichten Entzücken an den Luftspiegelungen der Natur, mit seiner Neigung zum Idyllischen? Er hatte genügend Zeit mit Wandschmuck und Altarbildern verschwendet. Jetzt musste er den Weg zurück zur Kunst finden, diese Spur, auf der er einmal gewesen war, damals, als er in seiner Jugend den für einen Kunstmaler unerhörten Entschluss fasste, nach Grönland zu reisen.
Dort oben an der grönländischen Küste würde er zweiundfünfzig Jahre alt werden.
War es bereits zu spät?
Unterwegs
D as erste Mal hatte Rasmussen die grönländische Westküste als junger Mann besegelt. Damals wäre er vermutlich niemals an Land gegangen, hätte er nicht gewusst, dass dort Menschen wohnen. Er hätte sich in Seenot befinden können, nach einem Schiffbruch in einem offenen Boot, er hätte monatelang ohne Nahrung und Flüssigkeit umhertreiben können, mit Zähnen, die ihm durch Skorbut aus dem Mund fielen, er hätte die Endlosigkeit des Meeres vorgezogen, seine Rettung jedoch hätte er bestimmt nicht hier gesucht – egal, wie schwach er auch gewesen wäre.
Damals kam er im Sommer. Doch er hatte den Eindruck gehabt, als wäre der Sommer nur eine dünne Schicht Schminke auf dem Gesicht eines Toten. Das Land hatte sich von der ersten senkrechten Felswand an abweisend gezeigt, und je tiefer der Reisende eindrang, desto menschenfeindlicher wurde es. Wie eine Warnung zogen sich die Gletscher bis hinunter ans Meer. Hier begann das Totenreich. Überall streckte das Eis seine weißen Leichenfinger zur Küste aus, und das bisschen Vegetation, das sich behauptete, schien nichts anderes zu sein als Schimmel, der auf einem Gerippe blühte.
Wie Boten des Todes schwammen die Eisberge, an deren Grund die Gletscher kalbten, aus den Tiefen der Fjorde heran, oder sie tauchten knirschend mit der Meeresströmung aus dem Süden auf, als beabsichtigten sie, das Schiff, das sich so weit vorgewagt hatte, unter den Pol zu zwingen – bis zum Ende der Welt und des Lebens. Er hatte das Gefühl gehabt, den Anfang einer vollkommenen Vereisung der Erde zu erleben. Wenn der Tag des Jüngsten Gerichts käme, würde er in einen Eisblock eingefroren sein, den Mund zu einem stummen Schrei aufgerissen.
Hinter den Fjells erwies sich das Inlandeis als eine abweisende Mauer aus schneidendem Weiß. Wer zu lange auf diese weiße Mauer starrte, nahm Schaden an seiner Seele und verlor jeden Lebensmut. Die Welt und all ihr Sinn schien ihm vor den Augen zu zerfasern. Das Inlandeis war unfruchtbarer als die unbarmherzigste Wüste. Nicht ein Vogel sang hier, nicht ein Grashalm wagte sich heraus, nicht einmal das genügsame Moos fand Halt auf der blanken Oberfäche des Eises. Schriftsteller kannten die Angst vor dem weißen Papier, wenn kein Gedanke sich einstellen wollte, Maler die Angst vor der weißen Leinwand, wenn die Inspiration ausblieb. Das Inlandeis war Gottes weiße Leinwand. Hier war seine Schöpferkraft blockiert, fielen seine Hände kraftlos herab. Das Inlandeis war ein Monument der Ohnmacht Gottes.
Carl hatte den Blick abgewandt, aber wo auch immer er hinsah, glitzerten Eisberge in der Sonne, dass es in den Augen schmerzte. Wie Adern unter der Haut liefen blaue und grüne Schmelzwasserstreifen unter der hart gefrorenen, eiskalt weißen Oberfäche. Gewaltige Kräfte waren im Spiel. Ohne Vorwarnung konnte ein Eiskoloss in der Mitte durchbrechen und ein Stück, größer als ein Dom, ins Meer stürzen und in seinem Fall nicht nur ein Kajak, sondern ein ganzes Schiff in die Tiefe reißen.
Wieder blickte er auf die Eisberge. Es schauderte ihn, und doch konnte er seine Augen nicht von dem Farbenspiel in der knisternden Eismasse abwenden. Der Maler in ihm erwachte.
Näher an der Küste sah er Wiesen und steinige Ebenen. Er sah goldene Butterblumenteppiche und das schimmernd grüne Laub der Zwergbirken. Häufig lagen blühende Flächen mit Weidenröschen, Weiden und Blaubeeren in der Nachbarschaft eines Gletschers, der sich bedrohlich zwischen den grauschwarzen Klippen vorschob. Und plötzlich sah er alles aus einer umgedrehten Perspektive. Nicht die Gletscher kalbten. Es war das Leben. Er befand sich in keinem Totenreich, sondern in einem
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