Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen
Zeit der Witze
»Ist das ein Gefühl«, sagt sie, »das ist wie alles neu, ganz komisch.« Sie meint, wieder draußen zu sein, denke ich, auf eigenen Beinen, sozusagen.
Ein heller Morgen kurz vor Sommer, Zeit für T-Shirts, Tops und Röcke. Die Straße ist leer so früh, ich beobachte Susan, ohne sie anzusehen. Ich fahre zu schnell, zum ersten Mal seit ich sie ins Krankenhaus gebracht habe, vor Wochen, als man dem Frühling noch nicht traute. Mit achtzig Sachen durch die Ortschaft, sportlich in die Kurven. Das geht wieder. In meinem Augenwinkel guckt Susan in alle Richtungen, als gäbe es da draußen etwas Neues, nicht hier drinnen. Wo ist ihre Angst. Die Neugierde, das Lächeln, alles altbekannt. Neu ist, dass ich es ihr nicht glauben will. Ich fahre zu weit links auf den Mittelstreifen, sehe den weißen Strichen zu, wie sie unter der Motorhaube verschwinden, ein dumpfer Rhythmus.
»Das ist alles so aufregend«, sagt sie und lächelt in meine Richtung. Ich fahre wieder etwas nach rechts, hebe den Kopf und lächle zurück.
»Ich bin so froh, dass ich wieder nach Hause kann«, sagt sie. Warum so fröhlich, denke ich, müssen wir jetzt fröhlich sein.
Ich halte vor der Haustür, steige aus, auch Susan drückt ihre Tür auf. Wie ein Kavalier alter Schule laufe ich um das Auto herum und bin ihr behilflich. Ich ziehe sie hoch aus ihrem Sitz, lege mir ihren linken Arm um den Hals und in einem noch nicht eingespielten Rhythmus laufe ich langsam und hüpft sie eilig auf das Haus zu. Wir stocken, stolpern aber nicht. Ihre langen braunen Locken wippen hin und her, es sind nur ein paar Meter, aber sie sind anstrengend, für uns beide. Sie lacht, als sei es lustig, wie wir humpeln. Dann nimmt sie ihren Arm von meiner Schulter, stützt sich an der Wand ab. Ich schließe auf. Als ich ihren Arm wieder um mich legen will, grinst sie und nickt in Richtung Wagen: »Na los, geh parken, ich pack das schon.« Sie greift nach dem Türknauf und mit der anderen Hand nach dem Türrahmen. Übermütig wie eine Turnerin auf dem Barren schwingt sie sich einbeinig in unsere Wohnung. Sie will mir zeigen, was alles möglich ist, wie viel Zuversicht sie hat.
So zusammengeklappt sieht ein Rollstuhl aus wie ein Fitnessgerät, denke ich und lege ihn auf dem Gehweg ab, die Krücken dazu. Ich schließe den Kofferraum, stehe noch einen Moment. Ich lasse die Geräte einfach liegen, nicht bewacht, und fahre den Wagen in den Hof, wo die Nachbarkinder ihren Fußball gegen die roten Backsteinwände hämmern. Wer sollte Krücken und Rollstuhl klauen.
Wir liegen im Wohnzimmer auf dem Sofa. Der Fernseher läuft. Draußen Regen. Ich hatte mit Depressionen gerechnet. Nur dass jetzt ich es bin, der melancholisch ist. Sie passt sich klaglos in unser neues fremdes Leben. Ihre Energie ist unbegreiflich, sie witzelt über ihre Behinderung, als habe der Friseur ihr einen schlechten Schnitt verpasst, so uneitel. Seltsam, dass ich, der Unversehrte, nicht klarkomme und sie mich aufmuntern soll.
Wenn die Stange sich durch Knie und Bein gestoßen hat, wie der Arzt es mir erklärt hat, müsste der Fuß, der jetzt fehlt, doch verschont geblieben sein. Wo kommen solche Reste hin, frage ich mich.
Susan hängt im Sofa, das Kinn auf der Brust, den Hintern fast auf der Kante, das Bein lang ausgestreckt. Sie gähnt, reckt sich, dann hebt sie die Beine in die Luft. Sie hält sie oben, über ihrem Kopf für einen Moment, es sieht aus wie eine gymnas-tische Übung, und sie sieht ihre Beine an, oder was davon geblieben ist. Ihr Kopf wird rot, sie presst hervor: »Seltsam, ich vermisse gar nichts.«
Ich schon , möchte ich antworten und achte darauf, dass meine Lippen meine Gedanken nicht nachformen. Susan lässt langsam und bedächtig ihre anderthalb Beine sinken, dann schnauft sie übertrieben. Sie macht das jetzt so. Ob sie am Tisch die Butter nimmt oder Schmerzen hat: Versucht immer, etwas Komisches zu finden, einen Witz zu machen. Ich stehe auf und gehe in die Küche. Ich schon , warum ich das nicht einfach sagen kann: Ich glaube dir nicht, wie kann man sein Bein verlieren und behaupten, es würde einem nicht fehlen, man würde es nicht vermissen. Es ist nicht da und es stört so offensichtlich, dass es nicht da ist, warum tut sie so.
»Willst du Wasser?«, rufe ich. »Hab noch«, sagt sie, »aber kannst mal umschalten, ich hab keinen Bock zum Fernseher zu humpeln«, und lacht kratzend.
Ich gehe nicht mehr joggen morgens. Es war Rücksicht in den ersten
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