Rasterfrau: Knobels achter Fall (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
Herr Knobel! All das, was ich Ihnen sage, werden Sie auch in den Akten finden, aber Sie müssten dann die Puzzlestücke mühevoll zusammensetzen.«
Er kehrte langsam zum Tisch zurück und setzte sich.
»Maxim Wendel kam als damals 29-jähriger Studienrat an das Nordstadt-Gymnasium«, hob er an. »Ausgebildet war er für die Fächer Chemie und Sport, die er beide sowohl in der Sekundarstufe I als auch in der Sekundarstufe II unterrichtete. Man hatte Wendel insbesondere wegen des Faches Chemie zu dieser Schule geholt, weil es für dieses Fach nur eine einzige weitere Lehrkraft gab und deshalb erheblicher Bedarf bestand. Wendel konnte keine guten Examensnoten vorweisen. Unter normalen Umständen hätte er nirgends eine Anstellung gefunden. Sein Glück war allein, dass das Fach Chemie an der Schule unterbesetzt war. Er wurde aber auch im Sportunterricht eingesetzt. Wendel war also ein eher unterdurchschnittlich begabter Lehrer und darüber hinaus auch ein von Anfang an zumindest kauziger Typ. Unvergessen ist auch sein schon absurder Geiz, der ihn zum Beispiel dazu trieb, darauf zu bestehen, in der Schulkantine zu Schülerpreisen essen zu dürfen. Er argumentierte, dass er ja wie seine Schüler nicht freiwillig in der Schule sei und sein Gehalt übermäßig belastet werde, wenn er die normalen Preise zahlen müsse. Er brachte ohnehin schon Esswaren von Zuhause mit in die Schule. Es ging bei der Preisfeilscherei nur um einen Kaffee oder eine Flasche Mineralwasser. Aber er setzte sich durch. Der Schulleiter gab schließlich nach, weil er Wendels Lamentieren wegen einiger Cents nicht mehr ertragen konnte. Wendel sprang wie ein Feuermelder an, wenn er irgendwo etwas geschenkt oder billiger bekommen konnte. Ich erwähne das nur, damit Sie sich ein Bild von ihm machen können.
Etwa ein Jahr später – somit etwa sechs Jahre vor dem Mord an Gossmann und somit aus heutiger Sicht vor rund zehn Jahren – kamen an der Schule erste Gerüchte über Maxim Wendel auf. Es hieß, dass er im Sportunterricht beim Geräteturnen Mädchen in einer Weise an die Oberschenkel greife, wenn er bei Bocksprüngen Hilfestellung leiste, die in dieser Form nicht nur unnötig, sondern eindeutig sexuellen Bezug hatten. Einige Schülerinnen hatten sich mit ihren Beobachtungen an einen Vertrauenslehrer gewandt, der diese Information umgehend an den Schulleiter weitergab. Der Direktor führte sofort ein Gespräch mit Wendel, der die Vorwürfe natürlich bestritt und als pubertäre Verwirrungen der Schülerinnen abtat. Immerhin bot er sogleich an, zukünftig das Bockspringen beim Geräteturnen nicht mehr durchzuführen. Damit hatte die Sache zunächst ihre Erledigung gefunden. Kaum zwei Monate später beschwerte sich jedoch eine Schülerin namens Frauke Schmidt – blond und groß gewachsen – darüber, dass Maxim Wendel sie beim Reckturnen unsittlich berührt habe. Sie habe nach dem sogenannten Sprung in den Stütz am Reck einen Krampf im Arm erlitten und aufgeschrien. Wendel sei hinzugeeilt, habe ihren Oberkörper umfasst und vom Reck getragen. Dazu muss man sagen, dass die Reckstange recht niedrig positioniert war, gleichwohl die gebotene Hilfestellung einen Griff von Wendel in dieser Form aber nicht nahelegte. Einfacher und effektiver wäre ein Hüftgriff gewesen, um die verkrampften Arme des Mädchens zu entlasten. Auch dieser Vorfall kam, wie etliche andere, die ich hier nicht nenne, dem Schulleiter zu Ohren. Wendel wurde daraufhin vom Sportunterricht abgezogen und auch nicht mehr mit auf Klassenfahrten geschickt, weil er bei der Fahrt der Jahrgangsstufe 9 in eine Jugendherberge dadurch aufgefallen war, dass er im Mädchentrakt zu einer Uhrzeit nach dem Rechten sah, als es wahrscheinlich war, dass sich die Mädchen umzogen. Wendel tat den sich daraus ableitenden Vorwurf damit ab, dass er die Gelegenheit nutzen wollte, die Zimmer auf das Vorhandensein verbotener Alkoholika zu untersuchen. All diese Beispiele zielen in dieselbe Richtung. Wendel unterrichtete also fortan nur noch das Fach Chemie. Er konnte den Lehrstoff nicht gut vermitteln. Darüber hinaus war er nie in der Lage, Tests und Klausuren zeitnah zu korrigieren. Unbekannt gebliebene Schüler oder Schülerinnen brachten irgendwann im Schulflur mit schwarzer Farbe den Spruch ›Wendel – bei Klausuren bummeln, stattdessen lieber fummeln‹ auf. Maxim Wendel, der so tat, als könne er sich nicht erklären, weshalb die Schülerschaft so reagierte, fühlte sich gemobbt und plötzlich
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