Rasterfrau: Knobels achter Fall (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
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Stephan Knobel nahm den Weg über die alte Bundesstraße 1, den Hellweg, der in einigem Abstand zur parallel verlaufenden Autobahn von Dortmund aus ostwärts führte. Er passierte Felder, die sich nordwärts im Horizont des beginnenden Münsterlandes und südwärts in den Ausläufern des Sauerlandes verloren und in der mittäglichen Sonne dieses Julitages unter der flirrenden Hitze wie erstarrt schienen. Mit dem Auto über den Hellweg zu fahren, hieß, der alten Handelsstraße zu folgen und sich der früheren Bedeutung dieses Weges bewusst werden zu können. Es gab sie nach wie vor, die Mühlen und großen Gehöfte, die den Hellweg säumten und schon im Mittelalter ihren Besitzern zu Wohlstand verholfen hatten. Die kleinen Orte an dieser Straße wirkten noch heute reich und rein und beeindruckten durch schöne Fachwerkbauten, doch Stephans Ziel entbehrte jeden Idylls: Er fuhr in die Justizvollzugsanstalt Werl. Es wirkte wie ein Anachronismus, dass die in diesem Städtchen errichtete Strafanstalt, gelegen in der Freiheit und Weite verkörpernden lieblichen Soester Börde, just die Straftäter beherbergte, die langjährige oder sogar lebenslange Freiheitsstrafen abzusitzen hatten.
Stephans Besuch galt einem jener Insassen, die wegen Mordes einsaßen. Es würde im Dezember vier Jahre her sein, dass die Schwurgerichtskammer des Landgerichts Dortmund den Studienrat Maxim Wendel wegen der vorsätzlichen und zur Verdeckung einer Straftat begangenen Tötung des Rentners Rudolf Gossmann zu lebenslanger Haft verurteilt hatte. Wendels Revision gegen dieses Urteil war im April des folgenden Jahres vom Bundesgerichtshof zurückgewiesen worden. Seither war das Urteil rechtskräftig.
Vor etwa einem halben Jahr hatte Wendel begonnen, Stephan in unregelmäßigen, doch immer kürzer werdenden Abständen Briefe zu schreiben, die stets mit der Bitte begannen, ihn in der Haftanstalt zu besuchen, bevor Wendel mit vielen Worten verbreitete, das Opfer einer Verschwörung und somit eines Justizirrtums geworden zu sein.
Stephan hatte die Briefe anfangs kommentarlos weggeworfen und die stets langen Schreiben nicht einmal ganz durchgelesen, bis Wendels Hartnäckigkeit schließlich von Erfolg gekrönt war.
Seit einigen Wochen hatte Stephan Wendels turnusmäßige Briefe gelesen, doch das Ansinnen des Gefangenen schien ebenso klar wie aussichtslos: Maxim Wendel wollte seinen Fall neu aufrollen lassen. Er strebte eine Wiederaufnahme des Prozesses und seinen Freispruch an. Wendel erinnerte daran, dass Stephan ihn aus einem längst abgeschlossenen Verfahren kenne, und es schien, als sollte diese Bekanntschaft Stephan motivieren, sich Wendels Falls anzunehmen.
Doch was Stephan Knobel von Maxim Wendel wusste, sprach nicht für ihn, sondern bestätigte eher das Bild, das die Staatsanwaltschaft bei der Mordanklage gegen Wendel gezeichnet hatte. Wendel reagierte mit einem abnorm wirkenden Automatismus auf hochgewachsene, blonde Frauen und nutzte jede sich bietende Gelegenheit, sich ihnen zu nähern und aufzudrängen. Es waren unbekannte Schönheiten, die aus dem Nichts auftauchten, bezaubernde Wesen, die Wendel eroberten und dirigierten, und aus dem Augenblick heraus Wendel mit allen Sinnen tasten und taktieren ließen, ohne dass sie von ihrer geheimnisvollen Macht etwas ahnten. Wendel heftete sich wie ein Magnet an diese Frauen, ließ sich von Anmut und vermeintlicher Reinheit betören, sog gierig Parfumnoten ein und deutete unverbindliche Gesten als lockende Signale. In seiner Phantasie fand Wendel mit diesen Frauen zu einer irrealen Zweisamkeit. Seinem triebhaften Handeln folgte nicht zwingend Ernstes nach. Manchmal blieb es bei einem Augenzwinkern, manchmal bei verbalen Annäherungsversuchen, die wegen ihrer gleichzeitigen Dreistigkeit und Unbeholfenheit häufig albern wirkten. Hin und wieder berührte Wendel die Frauen scheinbar wie zufällig und ließ sich zu anzüglichen Bemerkungen hinreißen.
Maxim Wendel hatte sich im Prozess selbstgefällig als Filou bezeichnet, tat sein Handeln als eine verhängnisvolle, jedoch harmlose Neigung zu dem von ihm so genannten blonden Gift ab, doch genau dieses Gift war zu seinem Verderben geworden. Letztlich saß Wendel genau aus diesem Grund ein.
Stephan hatte den Weg über den Hellweg nicht wegen der Schönheit der Strecke gewählt. Er hatte Zeit gewinnen wollen, weil er sich unsicher war, ob er mit dem Besuch Wendels in der Strafanstalt das Richtige tat. Er besuchte einen verurteilten Mörder, dem er
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