Rattentanz
über seine randvolle Windel gelacht.
Ganz anders Manuela, seine Schwester. Vor ihr hatte er Angst und sie war der eigentliche Grund für Becks Polizistenkarriere. Manuela war bei seiner Geburt acht Jahre alt gewesen. Der kleine Bruder kam einem Mädchen, welchem die abgeliebten Babypuppen bereits zu kindisch und ein eigenes Baby noch versagt waren, wie gerufen. Manuela nahm ihn mit der Selbstverständlichkeit einer Frühreifen in Besitz. Er hatte ihre Mutterinstinkte geweckt und fortan kaum mehr Gelegenheit, diesen zu entkommen. Sie schob ihn spazieren und präsentierte ihn stolz ihren Freundinnen. Jede durfte ihn anfassen und später auch seine Windeln wechseln. Manuela degradierte ihren kleinen Bruder zu einem Spielzeug; einem besonderen Spielzeug, einem lebenden Spielzeug.
Mit dreizehn, vierzehn begann sie sich langsam zu verformen. Sie bekam Brüste, groß wie Melonen, und ihre Hüften wurden breit und immer breiter. Es war, als habe sich der Körper des Mädchens den Vorgaben ihres Charakters entsprechend verändert und zu einer mütterlichen Glucke wie ihr gehörten die Rundungen einer reifen Matrone. Sie klemmte sich den kleinen Bruder zwischen die wogenden Brüste und liebkoste ihn ohne Rücksicht auf die drohende Erstickung. Mit sechzehn war er immer noch ihr Baby, ihr Kleiner, ihr Süßer. Tatsächlich war sie fast einen halben Kopf größer als er – keine Kunst, wenn man selbst nicht einmal einssiebzig misst.
Joachim Beck bewarb sich gegen den Willen seiner großen Schwester zum Polizeidienst. In seinen Augen war dies der einzige Weg, sich von ihr zu lösen, sie von sich zu lösen. Weder Recht noch Ordnung, weder Demokratie oder Waffen oder, wie viele seiner Kameraden damals vermuteten, Autoritätsgier waren maßgebend. Der einzige Grund war Manuela, seine viel zu große Schwester.
Heute hörte er nur noch selten von ihr. Sie hatte, nachdem er das Elternhaus endgültig verlassen hatte, geheiratet und schnell hintereinander drei Kinder in ihre Welt gesetzt. Diese durften jetzt ihre Mütterlichkeit genießen.
Bei seinen Kollegen war er angesehen. Die anfänglichen Witze über den abgebrochenen Riesen mit dem dünnen Bärtchen, der wie ein halb fertiger Rahmen den Mund einschloss, waren verstummt. Alle akzeptierten ihn. Er hatte sich freigeschwommen.
Von der Straße her drangen wütende Rufe in das Gebäude.
»Mein Gott, was ist mit dir passiert? Wo sind di Sario, Wegmann und Meinhoff?« Kommissar Storm, durchtrainierter Endvierziger mit kahlgeschorenem Schädel, betrachtete entsetzt das Gesicht seines Untergebenen. Sein Blick wanderte über die zerrissene Uniform zu den Füßen Becks, an denen ein Schuh fehlte. Die Mütze des Polizisten konnte er ebenfalls nicht entdecken.
»Wo ist deine Waffe?« Das dunkelbraune Lederhalfter unter Becks linker Achsel war leer. Beck schüttelte stumm den Kopf, was er aber sofort bereute. Er erstarrte mitten in der Bewegung, hoffte, so die durch seinen Schädel polternden Schmerzen zu beruhigen.
»Haben wir noch irgendwo Eis?«, fragte er zurück und zeigte auf seinen Kopf.
Storm, Kommissar und an diesem Vormittag Dienstgruppenleiter des Donaueschinger Reviers, brachte aus dem kleinen Kühlschrank im Aufenthaltsraum eine letzte Handvoll schmelzender Eiswürfel, eingewickelt in einen Plastikbeutel. In der Pfütze vor dem Kühlschrank rutschte er aus und konnte seinen Sturz nur dadurch verhindern, dass er sich an einem Regal festhielt, das daraufhin bedrohlich schwankte, sich neugierig nach vorn beugte, es sich letztendlich dann aber doch anders überlegte und in seine alte Position zurückkehrte. Dabei schüttelte es die alte Kaffeemaschine ab, deren Kanne zerplatzte wie ein überreifer Pickel.
»Mist!«, fluchte der Kommissar.
In diesem Moment, Beck lehnte weiter mit dem Rücken an der Tür und streckte gerade die Hand nach dem Eisbeutel aus, den ihm der Revierleiter entgegenhielt, zerbarst eine der vergitterten Fensterscheiben. Scherben tanzten über den Boden und reflektierten das Sonnenlicht. Ein faustgroßer quadratischer Pflasterstein rollte aus und blieb in der Mitte des Raumes liegen. Fast im selben Augenblick wurde ge gen die Tür des Reviers gehämmert und getreten. Die Tür zitterte und bebte und Beck sprang von ihr weg, als habe er sich den Rücken verbrannt.
»Ist hinten alles zu?« Beck meinte den zweiten Eingang ins Gebäu de, eine Doppeltür, die vom Hinterhof, auf dem die meisten hier ihre Autos und Fahrräder abstellten, durch einen schmalen
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