Rattentanz
als hätten sie sich verbrannt. Er presste seine beiden Fäuste wieder gegen die Ohren und krabbelte in seine Ecke zurück. Mit dem Gesicht zur Wand und angezogenen Knien versteckte er sich.
Schließlich verfiel er in jammerndes, leises Stöhnen und bewegte dazu den Oberkörper vor und zurück, vor und zurück, wie in Trance. Vor und zurück.
Die Frau war im Treppenhaus einmal falsch abgebogen und so vor der halb offenen Aufzugtür gelandet, von wo aus sie einen vollkommen unvorbereiteten Blick in die etwas tiefer stehende Kabine werfen konnte. Dort saß Anton Banholzer tot in seinem Bett. Die Techniker hatten vor die gewaltsam zur Hälfte geöffnete Tür ein Band geklebt und den Hinweis »Außer Betrieb« angebracht. Auch hatte man die Leiche mit einem Bettlaken abgedeckt. Da keiner wusste, wie man mit dem Toten weiter verfahren sollte, die aufgelöst weinende Krankenschwes ter beruhigt werden musste sowie ein weiterer stecken gebliebe ner Aufzug und immer mehr Kranke und Besucher nach den Techni kern und dem Arzt verlangten, hatte man Anton Banholzers herun terhängende Beine unter die Decke gesteckt, ein Laken über ihm ausgebreitet und besagten Hinweis angebracht.
Das Laken war vom Gesicht des aufrecht im Bett Sitzenden herabgerutscht. Seine Gesichtszüge hatten sich entspannt, aber aus den weit aufgerissenen Augen sprachen noch immer Todesangst und Entsetzen und sprangen, als die Frau in die halb offene Tür trat, in ihre Augen über. Sein Kopf war nach rechts auf seine Schulter gerutscht, sodass eine dünne Speichelspur aus seinem Mundwinkel auf die Brust getropft war und dort langsam trocknete. Seine Zunge, ebenfalls nach rechts verrutscht, sah inzwischen trocken und aufgequollen aus.
»Da liegt ein Toter im Aufzug!« Sie wirkte verwirrt, als sie mit dem Arzt sprach. Die Umstehenden saugten jedes Wort begierig auf. »Er sitzt im Aufzug in einem Bett und seine Augen …« Die Frau schluchz te hemmungslos. »Die Augen haben mich angesehen!«
12
11:23 Uhr, Donaueschingen, Polizeirevier
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Viel schneller, als pessimistischste Soziologen wohl jemals vermutet hätten, brachen die gesellschaftlichen Klammern, die das tägliche Leben ordneten. Dass alles so schnell ging, war mit einiger Sicherheit den diversen Flugzeugabstürzen zuzuschreiben.
Das Zusammentreffen des totalen Strom-und Wasserausfalls, verbunden mit dem Verlust sämtlicher Kommunikationsmöglichkeiten allein wäre wohl nicht in der Lage gewesen, innerhalb weniger Stunden dieses Bild vollkommener Anarchie zu malen. Die vom Himmel stürzenden Maschinen aber, die hautnah erlebten Katastrophen, bei denen Hunderte Menschen in gleißenden Feuerbällen verbrannten, das Gefühl der Ohnmacht beim Versuch, Hilfe zu rufen oder selbst zu leisten, all das führte selbst unverbesserlichen Optimisten und obrigkeitstreuen Befehlsempfängern (im Normalfall die Letzten, die ein Desaster zugaben) vor Augen, um was es sich handelte: um eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes!
Polizeihauptmeister Joachim Beck stolperte kurz nach halb elf mit gebrochener Nase ins Polizeirevier der Stadt. Sein Atem ging laut und rasselte wie eine zum Angriff bereite Klapperschlange. Er verriegelte die Tür, lehnte sich mit dem trügerischen Gefühl der Sicherheit gegen sie und schloss endlich die Augen. Becks Nase saß, im Gegenteil zu heu te morgen, als alles noch seine anatomische Richtigkeit hatte, et was schief im Gesicht des Achtundzwanzigjährigen. Und sie nahm langsam die Form einer blutigen Kartoffel an. Das rechte Auge war rot unterlaufen und halb zugeschwollen.
Joachim Becks Motivation, in den Polizeidienst einzutreten, war pro faner Art, familiärer Natur kann man sagen. Als jüngstes von drei Kindern war er für seinen älteren Bruder kaum existent. Elf Jahre la - gen zwischen ihnen und das einzige gemeinsame Spiel, an das Beck sich noch erinnern konnte, war »Cowboy und Indianer«. Natürlich waren sein Bruder und dessen Freunde die siegreichen Eroberer. Ihm steckten sie ein paar Hühnerfedern ins Haar, malten mit Schlamm braune Streifen auf seine Wangen, banden ihm die Hände auf den Rücken und zerrten ihn nackt bis auf die Windeln, die er damals noch immer trug, zu einem Kirschbaum. Hier sollte der kleine Wilde hängen. Noch heute spürte er das derbe Seil, das sie ihm um den Hals legten und hätte ihn damals jemand gefragt, er hätte Stein und Bein geschworen, dass es das schon wieder war mit dem Leben. Aber sie hatten ihn nicht aufgeknüpft, nur gemeinsam
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