Rau ist die See ...
es irgendwie schaffen, die Kommandobrücke zu erreichen. Nachts war sie stets mit dem Rudergänger, einem Funker und dem diensthabenden Offizier besetzt, das wusste Ann. Diese Männer konnten sie vor dem unheimlichen Verfolger beschützen.
Aber wenn dieser nicht dumm war, rechnete er damit, dass sie zur Brücke lief. Er musste ihr nur auf dem Weg dorthin auflauern.
Vorsichtig hob Ann den Kopf und spähte am Ladekran vorbei. Sie entdeckte niemanden. Angespannt blickte sie über die schwarzen Rümpfe der Rettungsboote, die durch die Schiffsbewegungen sanft hin und her schwangen. Einen Moment lang zog sie in Erwägung, unter eine der Abdeckungen zu kriechen und die Nacht in einem der Boote zu verbringen. Aber das war keine gute Idee. Wenn ihr Verfolger sie unter der grauen Plane fand, gab es keine Fluchtmöglichkeit mehr. Dann saß sie endgültig in der Falle.
Nein, sie musste zu den Leuten auf der Brücke gelangen. Von ihrer Position aus sah sie den Lichtschein, der aus der hell beleuchteten Kommandobrücke fiel. Wie schön wäre es, wenn sie es dorthin schaffte! Doch momentan erschien ihr dieses Ziel fast so unerreichbar wie der Mond, der tief und bleich über der schwarzen Unendlichkeit der Wellen hing.
Als sie die Knie kaum noch spürte, erhob sie sich langsam, aber nicht ganz. Sie hatte gesehen, wozu die dunkle Gestalt fähig war. Und Ann konnte nicht darauf hoffen, dass sie verschont wurde. Warum sollte der Mörder ihr auch glauben, wenn sie beteuerte, ihr Wissen mit niemandem zu teilen? Weil sie eine Frau war? Sicher nicht.
Ann presste die Lippen aufeinander. Sie durfte sich nicht von der Panik lähmen lassen. Noch war ihr nichts geschehen, ihr war kein einziges Haar gekrümmt worden.
Die MS Kyrene war riesig. 920 Passagierkabinen, vier Bistros, zwei Discos und drei Restaurants befanden sich auf dem 260 Meter langen und 31 Meter breiten hochmodernen Kreuzfahrtschiff. Wieso sollte sie in dem Gewirr von Gängen und Kabinenfluren keine Chance haben, sich vor dem Verfolger in Sicherheit zu bringen? Sie musste ja nicht zur Kommandobrücke gehen, sondern konnte sich auch woanders verstecken. Sie durfte nur nicht den Fehler machen, ihrem Gegner direkt in die Arme zu laufen.
So leise wie möglich schlich Ann zu einer stählernen Luke und öffnete sie. Sobald sie hineingeschlüpft war, verschloss sie sie. Es roch schwach nach Dieselöl. Der saubere, aber schmucklose Gang vor ihr führte zu den Vorratsbunkern. Diese Welt bildete den perfekten Gegenentwurf zum Luxus der Passagierkabinen und Wellnessoasen an Bord.
Sie ging in Richtung Bug, blieb jedoch darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen, durch das sie sich verraten konnte. Schnell kam sie deshalb nicht voran, aber das war allemal besser als … Nein, befahl sie sich stumm, nicht darüber nachdenken, was er mit dir anstellen wird …
Da hörte sie ein schabendes Geräusch hinter sich und konnte sich nicht länger zusammenreißen.
Gequält schrie sie auf und rannte los. Sie war entdeckt worden! Er hatte sie gefunden! Sie musste einfach schneller sein als er. Sie musste.
Warum kam ihr jetzt kein einziges Besatzungsmitglied oder ein Passagier, irgendjemand, entgegen? Natürlich, nachts hatten die Bordrestaurants geschlossen, genau wie die Bistros und Discos. Um diese Uhrzeit verirrte sich nicht einmal eine Küchenhilfe hierher.
Ohne sich umzudrehen, lief Ann weiter. Ihre Füße flogen regelrecht über den Stahlboden. Doch noch im Laufen begriff sie, dass sie ihren Gegner unterschätzt hatte. Er hatte mit ihr gespielt wie eine Katze mit einer Maus. Wahrscheinlich hatte er die ganze Zeit gewusst, wo sie sich verborgen gehalten hatte, und nur auf einen geeigneten Zeitpunkt gewartet, um zuzuschlagen.
Hoffnung stieg in ihr auf, als sie eine Treppe erreichte. Keuchend raste Ann die schmalen stählernen Stufen hinauf. Da wurde ihr linkes Fußgelenk hart gepackt. Ann stürzte. Sie ignorierte den Schmerz, trat mit dem rechten Fuß wild um sich. Aber es war sinnlos. Der Verfolger war ihr überlegen. Und er wusste, wie er sie zum Schweigen bringen konnte.
1. KAPITEL
Jade Walker stand vor der Gangway und blickte an der schneeweißen Bordwand der MS Kyrene hoch.
Es kam ihr immer noch seltsam unwirklich vor, dass sie jetzt im Hafen von Oslo war und gleich an Bord des Kreuzfahrtschiffes gehen würde. Noch am Morgen hatte sie in London vor ihrem Tee gegähnt und ernsthaft darüber nachgedacht, einen mies bezahlten Job als Kellnerin anzunehmen. Dann war der Anruf
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