Rau ist die See ...
Kapitän Grangers Urteil über Ann Brockwell hart. Natürlich kannte Jade ihre Vorgängerin nicht. Aber würde es jemandem auffallen, wenn sie beispielsweise über Bord gefallen war? Obwohl – bei einem solchen Unfall hätte sie wohl nicht ihre gesamten Habseligkeiten bei sich gehabt. Jade hielt es für cleverer, ihre Vorgängerin nicht weiter zu verteidigen. Im Grunde konnte sie dieser Ann Brockwell nur dankbar sein. Wäre sie nicht kommentarlos abgetaucht, hätte Jade diesen gut bezahlten Job nicht ergattern können.
„Ich nehme jedenfalls meine Verpflichtungen ernst, Sir“, sagte sie schließlich mit fester Stimme. „Da können Sie fragen, wen Sie wollen.“
„Das ist gut, Miss Walker. Ich habe bei der Arbeitsvermittlung um eine besonders zuverlässige Animateurin gebeten. Daraufhin sind Sie mir empfohlen worden.“ Er wandte den Blick ab und sah aus dem Bullauge. „Ja, was soll ich noch sagen? Nochmals willkommen an Bord. Der Steward wird Sie gleich zu Ihrer Kabine führen. Es ist die Ihrer Vorgängerin, natürlich gereinigt. Bei der Gestaltung Ihres Unterhaltungsprogramms haben Sie freie Hand. Stimmen Sie sich einfach mit Ihren Kollegen ab. Und vergessen Sie bitte nicht, dass unsere Kreuzfahrtgäste auch bei den Landausflügen Betreuung und Unterhaltung erwarten.“
„Das ist mir bewusst, Sir. Ich werde mich gleich in die Arbeit stürzen, sobald ich ausgepackt habe.“
Nun lächelte der Kapitän wieder. „Das ist die richtige Einstellung, die ich mir bei jedem Crewmitglied wünsche. Wenn Sie Ihre Aufgaben so beherzt anpacken, wird diese Kreuzfahrt für Sie und uns ein großer Erfolg werden.“
Jade nickte. Sie hatte keinen Zweifel mehr daran, dass sie unter großem Druck stand. Granger war offenbar immer noch wütend auf ihre Vorgängerin. Und das bedeutete, dass Jade sich auch nicht den kleinsten Fehler erlauben durfte. Egal. Das wollte sie sowieso nicht. Denn wenn sie den Job auf der MS Kyrene gut erledigte, würde sie genug Geld für das nächste Semester verdienen. Jade wollte ihren Eltern unbedingt beweisen, dass sie auf eigenen Füßen stehen und ihre Pläne aus eigener Kraft umsetzen konnte.
Sie versuchte, trotz der Anspannung, die sie überkommen war, weiterhin gelassen zu wirken. Trotzdem war Jade froh, als er sie verabschiedet hatte und sie in Begleitung des Stewards das Captain’s Office verließ.
Offenbar hatte Henry inzwischen seine Sprache wiedergefunden. Er zwinkerte Jade vertraulich zu. „Na, wie war es bei unserem Eisenknochen? Der Alte ist eigentlich ganz umgänglich. Das Kielholen wird nur noch in Ausnahmefällen durchgeführt, wenn ihm nämlich jemand richtig auf die Nerven geht.“
Als er ihren verständnislosen Blick aufgefangen hatte, fügte Henry hinzu: „Das sollte ein Witz sein! Kielholen, damit haben in früheren Jahrhunderten grausame Schiffsführer aufrührerische Matrosen bestraft. Die armen Kerle wurden an Seilen festgebunden und unter dem Schiffsrumpf durch das Wasser gezogen. Meistens haben sie sich an herausstehenden Nägeln und Muschelbewuchs schlimm verletzt. Aber so arg ist Granger gar nicht. Du kennst ja das Sprichwort: Hunde, die bellen, beißen nicht.“
„Du hast ja schnell einen flotten Spruch auf Lager“, entgegnete Jade kühl. „Dabei hast du mich vorhin noch angeglotzt, als wäre ich ein Geist.“
Sekundenlang war sein Lächeln verschwunden.
Ich habe wohl einen wunden Punkt bei ihm getroffen, dachte Jade. Obwohl sie nicht wusste, was sie Falsches gesagt hatte, tat es ihr leid. Eigentlich war Henry ja auch ganz nett, auch wenn er nicht ihr Typ war. Sie mochte blonde Männer lieber. Henry hatte fast die gleiche Haarfarbe wie sie, war fast genauso groß wie sie, wirkte jedoch klein und schwächlich.
Henry hatte sich schnell wieder im Griff. „Geglotzt, ich? Dabei musst du dir nichts denken, beim Anblick schöner Frauen entgleisen mir manchmal die Gesichtszüge.“ Schnell ging er weiter. „So, hier über uns ist das Promenadendeck. Dort lassen sich die Passagiere in ihren Liegestühlen die Sonne auf den Bauch scheinen, wenn es nicht so kalt und bewölkt ist wie im Moment.“
Jade runzelte die Stirn. So galant, wie er es sich wahrscheinlich vorgestellt hatte, war er nicht über das Thema hinweggegangen. Bestimmt hatte er sie aus einem ganz anderen Grund angestarrt. Höflichkeitshalber fragte sie nicht weiter nach. „So, dann willst du mir jetzt also erst das Schiff zeigen, ja?“
„Das bietet sich an, wir müssen die MS Kyrene sowieso fast
Weitere Kostenlose Bücher