Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ravinia

Titel: Ravinia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
Vom Netzwerk:
erste Januar. Bestimmt hatte der Schlüsselmacher geschlossen. Aber klare Gedanken waren sowieso ein Gut, mit dem Lara zurzeit nicht dienen konnte. Sie schalt sich leise einen Dummkopf.
    Doch da bemerkte sie, dass sich im Inneren des Ladens jemand bewegte.
    Schicksal? Zufall? Unwichtig! Lara brauchte eine Erklärung für ihren Schlüssel.

    Beim Näherkommen wurde Lara erhobener, streitender Stimmen gewahr, die aus dem Ladeninneren kamen. Durch die verschmierten Scheiben konnte sie jedoch nicht viel erkennen. Der Ladenbesitzer musste sich mit jemandem in den Haaren liegen, doch durch das Fenster war nur eine Person auszumachen. Lara presste ihre Nase gegen die Schaufensterscheibe. Nun sah sie mehr. Drinnen stand ein genervt wirkender Mann – Lara schätzte ihn auf etwa dreißig – mit schwarzen, zerzausten Haaren und dunklem Pullover, was nicht dazu beitrug, dass sein ohnehin schon blasses Gesicht an Farbe gewann. Er machte eine abwehrende Geste mit beiden Händen und sagte etwas, das Lara nicht verstand. Sein Gegenüber, das in der anderen Ecke des Ladens stehen musste, erwiderte etwas. Aber weder verstand Lara, was dieser Jemand sagte, noch konnte sie ihn sehen. Womöglich saß er oder war kleinwüchsig oder – egal.
    Sie öffnete die Tür und löste bimmelnde Blechglocken aus, die offenbar Kundschaft ankündigen sollten. Der Mann mit dem zerzausten Haar blickte sie an.
    Â»Krah«, machte es aus der Ecke. Ein Rabe saß dort auf einer Art Werkbank und legte den Kopf schief. Ein großer, pechschwarzer Kolkrabe.
    War der Rabe der Streitpartner des blassen Mannes gewesen? Unmöglich. Mit Raben konnte man sich nicht unterhalten, obwohl Lara schon davon gehört hatte, dass Raben sprechen lernen konnten – wie Papageien oder Wellensittiche. Möglicherweise hatte der Mann einfach nur eine blühende Phantasie und vertrieb sich so die Zeit, da er ja am ersten Januar sowieso nicht mit Kundschaft zu rechnen brauchte.
    Der Laden war urig. Nicht besonders groß. Dort, wo es keine schweren Eichenregale, Ecktischchen oder Werkbänke gab, lugten Reste einer alten Holzvertäfelung hervor. Der Raum wirkte zweigeteilt. Auf der linken Seite hingen mehrere Dutzend Uhren in allen Größen und Formen an der Wand. In den Regalen lagen Zahnräder, Ziffernblätter, Federn und auch sonst alles, was man zum Bau oder zur Reparatur einer Uhr brauchte. Ähnlich verhielt es sich mit der rechten Ladenhälfte, bloß dass diese den Schlüsseln und Schlössern gehörte. Ein riesiges Schlüsselbrett, das voller Schlüssel hing, schmückte einen großen Teil der Wand. Große, kleine, breite, lange, silberne, bronzene, solche mit komischen Formen und langen Griffen, solche mit –
    Â»Hey, junge Miss!«, kam es da vom Tresen, der genau die Mitte zwischen beiden Ladenhälften ausfüllte. Lang, schwer und dick mit einer alten Registrierkasse und – was gar nicht ins Bild des Ladens passen wollte – einem Laptop daneben. Der blasse Mann mit dem dunklen Haar hatte eine Augenbraue hochgezogen und Lara mit einer Stimme angesprochen, die viel zu tief für sein Alter klang. Offenbar war ihm nicht entgangen, dass Lara vor Staunen erstarrt war.
    Lara indes schüttelte ihre Erstarrung ab und trat zu dem Mann an den Tresen heran.
    Â»Ich habe da einen Schlüssel, der nicht funktioniert«, meinte sie und legte den goldenen Schlüssel auf den Ladentisch.
    Die Augen des Mannes weiteten sich kurz. Aber nur kurz, wie ein flüchtiger Schatten. Dann nahm er den Schlüssel in eine Hand und beäugte ihn gezielt und fachmännisch.
    Â»Wo hast du es denn versucht?«, wollte er wissen.
    Â»An unserer Haustür natürlich. Von innen ging er, nur von außen nicht mehr.«
    Der Blick wanderte vom Schlüssel zu Lara.
    Â»Aber wir sind doch schon in der Victoria Street in Edinburgh«, stellte der Mann fest und tippte mit dem Finger auf den Schriftzug am Schlüssel. »Ein Schlüssel kann dich doch nicht von der Victoria Street in die Victoria Street bringen, das funktioniert nicht.«
    Lara blieb stumm. Er hätte ebenso gut sagen können, dass Elefanten selbstverständlich nicht auf Palmen kletterten, schon gar nicht in Sibirien.
    Â»Wollen Sie mich verschaukeln?«, fragte sie und überlegte, ob sie beleidigt sein sollte. Waren denn im neuen Jahr auf einmal alle Leute komisch?
    Â»Krah, sie

Weitere Kostenlose Bücher