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Ravinia

Titel: Ravinia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Corzilius
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zusammengeführt, als sowohl Laras Eltern als auch ihre Großmutter von einem Abend im Theater nicht zurückgekehrt waren. Sie selbst erinnerte sich an gar nichts. Ihr Großvater dagegen an alles, und insgeheim war Lara schon oft der Gedanke gekommen, dass dessen unbändige Lebensfreude in gewisser Weise von diesem Abend – an dem er die schwersten Verluste seines Lebens hatte hinnehmen müssen – herrührte. Nur Lara war geblieben, denn Henry McLane hasste sowohl Theater als auch Kino und begründete dies auch sehr genau: »Weißt du Lara, einen Film oder ein Bühnenstück kann ich auch auf dem heimischen Fernseher sehen«, sagte er immer. »Dazu muss ich nicht raus in das verdammte Mistwetter. Und geselliger ist es auch nicht, denn währenddessen müssen ja doch alle die Klappe halten. Außerdem muss ich mich bei einem Video nicht an Anfangszeiten halten. Und gemütlich etwas essen gehen kann man danach auch noch. Gesellig ist es auch im Pub. Oder man kocht sich etwas, wenn das Wetter schlecht ist – wie es in Schottland nun mal meistens ist.«
    So war ihm die Aufgabe damals zugefallen, auf die kleine Lara aufzupassen, damit sich der Rest der Familie einen netten Abend machen konnte.
    Seit jenen verhängnisvollen Stunden war seine Liebe zu Theater und Kino gewiss auch nicht mehr gewachsen. Doch sorgte er nun für seine kleine Enkeltochter, der er als Touristenführer zwar kein luxuriöses, dafür aber ein umso schöneres Leben bieten konnte. Und wer konnte schon von sich behaupten, in einem Haus an der Royal Mile in Edinburgh zu wohnen? Denn dort lag sie, die kleine Wohnung der McLanes. Verwinkelt, mit altem Holz ausgekleidet, in einem grauen Bruchsteinhaus mit vielen Schornsteinen, so wie wohl alle Häuser in Schottland viele Schornsteine haben.
    Zwar hatte Lara sich häufig gewünscht, sie hätte ihre Eltern kennengelernt, aber letztlich hatte sie sich damit arrangieren müssen, nur ihr Grab von Zeit zu Zeit aufsuchen zu können. Dann stand sie vor dem dunklen Grabstein und beobachtete, welchen Fortschritt der Efeu bei dessen Eroberung machte. Sie mochte den Efeu. Efeu vermittelte ihr seit jeher ein Gefühl von Geborgenheit. Nur den Schriftzug mit den Namen durfte er nie besetzt halten, dann griff Lara zur Schere und verbannte ihn von den geschwungenen Lettern, deren Linien für alle Ewigkeit Arthur und Layla McLane bilden würden.
    Ihr Großvater hatte ihr vorbehaltlos alles erzählt, was sie über ihre Eltern hatte wissen wollen, doch eine Verbindung zu ihnen wollte sich in Laras Herz nicht herstellen lassen. Sie hatte einfach nie die Chance gehabt, das herzliche Lachen ihres Vaters oder die kastanienbraunen Augen ihrer Mutter zu erleben. So zu erleben, dass sich die Erinnerung tief auf den Boden ihres Herzens eingebrannt hätte. Dazu war es einfach nie gekommen, denn sie war schlichtweg zu jung gewesen damals, zu klein für große Erinnerungen. Und Lara hatte dies akzeptiert. Doch die verschmitzt fröhliche Art, mit der Henry McLane sie durch ihre bisher sechzehn Jahre begleitet hatte (trotz des Verlustes von Sohn und Frau – und von noch so viel mehr, wovon Lara noch nichts wusste), hatte sie gelehrt, dem Leben all jene Schönheiten abzugewinnen, die es einem jeden Tag bot.
    Und hätte Lara zu jenem Zeitpunkt alles gewusst – über Tom und Baltasar, Marcion und die Vaganten, über Lee, über Flüche und Raben, über Schlüssel und Uhren, über wahre Künste und über das alles vereinnahmende, düstergoldene Ravinia – und natürlich über Winter, Winter, verdammter Winter! –, dann hätte sie vielleicht niemals das rote Band von dem kleinen, länglichen Päckchen gelöst, niemals das Papier mit einer beschwingten Bewegung heruntergerissen und niemals den Inhalt bestaunt, der alles verändern würde.
    Einen Schlüssel.

    Das Leben ist ein Verräter.
    Es zeigt einem so häufig erst die schöne Seite, bevor es in verzweifelte Düsternis umschlägt.
    Ja, er war schön. Ausgesprochen schön. Einmalig. Sofern man das von einem Schlüssel überhaupt sagen konnte. Er hatte goldene Ränder und einen mit winzigen, schillernden Ornamenten verzierten Kopf, in den Victoria Street, Edinburgh eingraviert war.
    Lara staunte und sagte – nichts.
    Was hätte sie auch sagen sollen? Schließlich hatte man ihr zum Geburtstag noch

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