Raya und Kill - Gefaehrliche Grenze
nicht, was mit ihm geschehen ist, ob er an
der Klippe abgestürzt und tot ist. Dunkel erinnere ich mich plötzlich, dass es
an jener Stelle mindestens zehn Meter in die Tiefe ging. Dann kam eine schmale
Kante. Und darunter nichts mehr. Freier Fall in den schwarzen Schlund des
Berges.
Pa:ris ist bezwungen. Seine Augen sind gerötet. Er
hustet und röchelt unter dem festen Griff des Feindes.
Ich ignoriere die stechenden Schmerzen in meiner
Schulter, vergesse das Brennen meiner Haut unter dem zerfetzten Hemd. Ich verdränge
sogar das reißende Gefühl in meinem Herzen und die Frage, was mit Kill
geschehen ist. Ich konzentriere mich nur noch darauf, was ich jetzt tun muss,
um Pa:ris’ und mein Leben zu retten. Ich habe nur diese eine Gelegenheit, um
die Aufmerksamkeit der Falkgreifer-Männer auf mich zu lenken. Also hebe ich die
Stimme.
»Wir … haben zwei Kinder und eine Frau«, rufe ich
ihnen zu.
Die beiden Vogelmänner blicken mich wortlos an und
verharren in der Bewegung. Offenbar sind sie gewillt, mir zuzuhören.
Das ist meine einzige Chance. Ich darf sie nicht
verpatzen. Sonst werfen sie uns in die Tiefe, so wie sie es einst mit Connor
und seiner Truppe gemacht haben …
»Also, ich stell mir das so vor.« Ich räuspere
mich. »Wir machen einen Geiselaustausch. Ich gehe allein zurück und hole sie.
Drei Gefangene gegen uns …«
Verzweifelt blicke ich zum Rand des Plateaus,
zögere, dann spreche ich das Unfassbare aus: »Drei gegen zwei.«
»Wir trauen dir nicht«, sagt der Falkgreifer, der
vor wenigen Sekunden Kill die Klippe hinabgedrängt hat. Seine Stimme ist
krächzend, als hätte er eine schlimme Stimmbandentzündung.
»Ich traue dir auch nicht!«, sage ich so ruhig wie
möglich und hebe eine Augenbraue. »Aber das ist keine Lösung.«
Der Greifer kickt mit dem Fuß Pa:ris’ Funkgerät
vom Plateau. Es schlägt irgendwo mit einem splitternden Geräusch auf.
»Woher will ich wissen, dass du mich nicht
betrügst und den da«, er blickt zu
Pa:ris, »seinem Schicksal überlässt«, krächzt der Greifermann.
»Weil er mein Verlobter ist.«
»Wie schön. Ein Pärchen!«
Er kommt mit lässiger Haltung auf mich zu und mustert
mich. Ich spähe an ihm vorbei zur Kliffkante, bete, dass Kill wieder auftaucht.
Das wäre jetzt ein wirklich guter Moment.
Siegesgewiss hebt der Falkgreifer mit einer Kralle
mein Kinn. Ich sehe in kalte, hellblaue Augen mit einer scharf umrissenen schwarzen
Pupille. Sein Blick ist durchdringend. Eine schrägstehende blonde Augenbraue
und sein zur Grimasse verzogener Mund signalisieren Verachtung.
»Sag mir, warum ich dich nicht auf der Stelle
töten sollte?«, kreischt er mich an.
Da entdecke ich die Narben an seinem Hals und an
seiner Schulter. Das fehlte mir noch. Ist das etwa der Falkgreifer, dem ich
meinen Pfeil in die Schlagader gerammt habe? Hoffentlich erkennt er mich nicht
wieder.
Er kommt mir unerträglich nahe. Ich spüre seinen
heißen Atem auf meinem Gesicht. »Das Mädchen und der Wolfer«, zischt er und
grinst. »Nun ohne Wolfer. Also, was hast du mir zu sagen, bevor du stirbst?«
Ich spüre meine errötenden, heißen Wangen. Der
Greifermann wird sich fragen, ob ich ihn belogen oder meinen Verlobten betrogen
habe. Auf keinen Fall wird er mir noch trauen.
»Pa:ris bleibt als Pfand hier«, sage ich mit
brüchiger Stimme und blicke zu ihm hinüber.
»Lasst sie gehen!«, ruft er und versucht sich
durch einen kräftigen Ruck aus der Umklammerung zu befreien. Aber es gelingt
ihm nicht und er wird wieder still.
Der Falkgreifer mit der Narbe packt mich an der
Schulter. »Stirb!«
Doch der andere Falkgreifer, ein Mann mit
kupferfarbenen Haaren, ruft etwas, das wie ein Einspruch klingt. Die beiden
diskutieren in einer merkwürdigen Sprache.
»Er ist ein gutes Pfand … er ist ein ranghoher
Offizier«, sage ich hastig und senke die Stimme. »Seht doch die Sterne … auf
seinen Schultern!«
Mich beschleichen Zweifel: Wissen die Greifer
eigentlich, was militärische Ränge bei uns bedeuten? Pa:ris begann seine
militärische Ausbildung als Sohn des Statthalters von Anfang an mit drei
Sternen – vermutlich hat das für die Falkgreifer keine Bedeutung.
»Ich … ich bin nur ein Niemand«, stottere ich. »Aber
ich hole die Frau und die beiden Kinder. Ich gehe alleine und ich komme ohne
Gills zurück. Nur die Gefangenen und ich. Ihr habt nichts zu verlieren. Euer
Wort gegen meines. Wenn ich zurück bin, lasst ihr uns frei.«
Die beiden Greifermänner tauschen einen
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