Reich der Schatten
dann könnte ich mir wenigstens ein Bild von seinem Charakter machen.«
»Er hat keinen Charakter. Gehen wir!«
Ann zog sie fort.
Tara warf noch einmal einen Blick zurück. Sie hatte das sichere Gefühl, dass der Mann sie beobachtete, auch wenn seine Augen hinter der dunklen Brille versteckt waren. Er war attraktiv in seiner Eleganz und hätte in ihren Augen ausgezeichnet zu Anns kühlem Flair von Raffinesse und Intellekt gepasst.
Doch dann trat ein Mann zu ihm, dem er seine Aufmerksamkeit zuwandte. Willem kannte ihn offenbar. Er stand auf und schüttelte ihm die Hand. Der andere war ebenfalls hellhäutig, groß und blond. Unter seinem Anzug schien sich eine ausgezeichnete Figur zu verbergen, doch recht viel mehr konnte Tara nicht erkennen. Auch sein Gesicht war hinter einer Sonnenbrille verborgen.
Tara wäre fast gestolpert. Sie richtete den Blick wieder nach vorne. Dabei überkam sie plötzlich ein merkwürdiges Gefühl – das Gefühl, beobachtet, ja sogar verfolgt zu werden. Sie bekam eine Gänsehaut, eiskaltes Adrenalin schoss ihr durch die Adern.
Sie zitterte.
Und sah sich noch einmal um.
Keiner der beiden Männer saß mehr am Tisch. Tara blieb wie angewurzelt stehen und starrte verwirrt zurück. Die zwei hatten sich offenbar in Luft aufgelöst.
»Er hat jemanden getroffen«, meinte sie zu Ann.
»Er ist Vertriebsleiter, er trifft ständig jemanden«, erwiderte Ann ungeduldig. »Und ich muss dich jetzt heimbringen und wieder herkommen und ein bisschen Arbeit erledigen. Können wir jetzt bitte weiter?«
Tara gab sich einen Ruck. Sie war müde. Sie hasste den langen Flug über den Atlantik. Sie liebte Europa, aber der lange Weg war ihr wirklich ausgesprochen lästig. Sie lächelte reumütig. Der Morgen in Paris war wunderschön.
»Tara!«
»Ich komm ja schon.«
Wenig später saßen sie im Auto und verließen die Stadt.
»Er wirkt sehr interessant«, meinte Tara und beobachtete ihre Cousine.
»Ich habe keine Lust mehr, über ihn zu reden.« Ann wirkte geistesabwesend. »Es gibt Wichtigeres, als sich über einen verlogenen, untreuen Mann den Kopf zu zerbrechen. Großvater zum Beispiel.«
»Sollte ich mehr über ihn erfahren?«, fragte Tara.
»Ich habe dir doch gesagt, dass er ein verlogener Betrüger ist. Was willst du noch hören?«
»Ich meinte Großvater.«
»Ach so.« Ann warf ihr einen Blick zu. »Wir sind gleich da. Wenn du ihn siehst, wirst du alles verstehen.«
»Aber er ist jetzt wieder einigermaßen gesund?«
»Nicht so richtig, aber es geht ihm besser. Jedenfalls hat er sich von seiner Lungenentzündung erholt. Ich habe den Eindruck, dass er seine ganze Energie darauf verwendet hat, gesund zu werden und wieder zu Kräften zu kommen. Eines beunruhigt mich jedoch: Er beschäftigt sich die ganze Zeit mit einer archäologischen Ausgrabung, die momentan in unserem Dorf stattfindet. Offenbar hat man einen Gang zu den Grabkammern unter der alten Kirchenruine gebuddelt. Nach dem Aufwachen greift Großpapa jeden Tag als Erstes zur Zeitung, und er hat mich gebeten, nachzusehen, wie weit man mit den Ausgrabungen gekommen ist. Dann brütet er stundenlang über seinen alten Büchern und regt sich auf. Er wollte auch schon selbst zur Grabungsstelle, aber das hat ihm sein Arzt verboten, denn die Luft an einem solchen Ort ist sehr schlecht für ihn. Als er erfahren hat, dass es ihn das Leben kosten könnte, ist ihm klar geworden, dass er nicht selbst dorthin kann. Er ist nämlich wild entschlossen, am Leben zu bleiben. Er versucht, gesund zu bleiben und auf sich aufzupassen, aber er will unbedingt, dass ich dorthin gehe, und treibt mich damit schier in den Wahnsinn.«
»Bist du denn schon dort gewesen?«
Ann schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die Absicht, ihn in seinen Hirngespinsten zu unterstützen. Ich habe ihm gesagt, dass Touristen der Zutritt zur Gruft untersagt ist und dass auch ich nicht vorgelassen würde.«
»Stimmt das denn?«
»Eine Zeit lang hat es gestimmt«, gab Ann zu und setzte ein schuldbewusstes Lächeln auf. »Man machte sich Sorgen wegen der Stabilität der unterirdischen Anlage. Wie es momentan aussieht, weiß ich nicht. Als die Grabungen anfingen, erschienen ein paar Artikel in der Zeitung, aber inzwischen wird nur gelegentlich ganz kurz darüber berichtet.« Sie warf wieder einen raschen Blick auf Tara und zuckte mit den Schultern. »Na gut, ich glaube, inzwischen ist die Ausgrabung für Touristen zugänglich. Keine Ahnung, warum das so ist. Wir sind doch nur eine
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