Reich der Schatten
zur Ruhe gesetzt und lebten nun den Großteil des Jahres in einem kleinen Haus an der Costa del Sol.
Das Haus ihres Großvaters als Château zu bezeichnen war vielleicht ein wenig hoch gegriffen, aber als der kleine Landsitz im achtzehnten Jahrhundert vergrößert worden war, hatte man es Le Petit Château DeVant genannt – und so hieß es noch heute.
Im Krieg hatte die Familie ihr kleines Vermögen fast ganz verloren, doch was übrig geblieben war, hatte man klug angelegt, und das kleine Anwesen war zwar etwas baufällig, besaß jedoch sehr viel Charme. Es hatte zwei Geschosse und eine altmodische Diele, die als Salon diente. Daneben gab es eine stattliche Bibliothek und wundervolle Schlafzimmer im ersten Stock, deren Balkone auf den Hof führten. In der Remise standen noch heute ein kleiner Einspänner und Daniel, ein unglaublich altes, sanftmütiges, graues Kutschpferd, das inzwischen allerdings fast nur noch friedlich auf der angrenzenden Weide graste.
Ann schüttelte plötzlich den Kopf, drückte ihre Zigarette aus und beugte sich vor. »Es hat nichts mit dem Krieg zu tun. Vielleicht ist ihm seine Schriftstellerei zu Kopf gestiegen, vielleicht hat er auch zu viele amerikanische Comics gelesen. Er ist beunruhigt, er glaubt, dass er etwas … jemanden im Stich gelassen hat. Er spricht tatsächlich viel vom Krieg und meint, dass das, was damals passierte, ihn völlig vergessen ließ, was er war und wer er war. Und dann sein Umzug nach Amerika … Aber er sagt ständig, dass er es hätte wissen müssen, weil es immer da war, selbst in Amerika.«
»Aber was war denn da, selbst in Amerika?«
Ann hob hilflos die Hände. »Ich weiß es nicht. Manchmal wirkt er plötzlich sehr aufgeregt, als ob er zu viel gesagt hätte. Vielleicht bekommst du mehr aus ihm heraus. Als er krank wurde, habe ich Urlaub genommen, aber jetzt muss ich wieder arbeiten, sonst bin ich meinen Job los. Ich verdiene zwar kein Vermögen, aber ich liebe meine Arbeit.«
Tara bekam ein schlechtes Gewissen, dass sie erst jetzt nach Frankreich gekommen war. Aber auch sie hatte noch einiges erledigen müssen.
Sie und Ann hatten unterschiedliche Wege eingeschlagen, doch nun arbeiteten sie seltsamerweise an ziemlich ähnlichen Projekten. Ann war Lektorin in einem Verlag, der englische und amerikanische Literatur einkaufte und übersetzte, Tara war Grafikerin und hatte viele Buchumschläge entworfen.
»Aber du kannst auch zu Hause arbeiten, oder?«, fragte Tara.
Ann lachte. »Oft genug arbeite ich lieber zu Hause, denn in der Arbeit klingelt ständig das Telefon. Und die ganzen Meetings … Aber das ist es eben – um die komme ich nicht herum.«
Tara nickte. »Na gut, jetzt bin ich ja hier.« Sie gähnte. »Und ich bin wahnsinnig müde.«
»Soll das heißen, dass ich dich heute Abend nicht in eine Kneipe entführen kann, um deine Ankunft zu feiern? Momentan hängen ein paar ziemlich attraktive Kerle rum. Du hast mir doch erzählt, dass du dich von deinem Börsenmakler getrennt hast.«
Tara nickte. »Ja, wir haben uns getrennt. Aber willst du wirklich durch die Kneipen ziehen? Was ist denn aus der neuen Liebe deines Lebens geworden?«
Ann rümpfte die Nase. »Wir haben uns auch getrennt.«
»War es schwer für dich?«
»Schwer?« Ann zog verächtlich eine Braue hoch und seufzte. »Du weißt ja, dass ich Willem kennenlernte, nachdem er den Posten als Vertriebschef übernommen hatte. Vor ungefähr einer Woche fand in meinem Büro ein Meeting statt, das sich in die Länge zog. Willem wollte noch etwas mit der Grafikchefin und den Models für eine Anzeigenkampagne besprechen. Er sollte für mich mein Büro abschließen, und anschließend wollten wir uns in einem Hotel treffen. Ich zog los und besorgte etwas für ein romantisches Dinner, aber dann fiel mir ein, dass ich das Manuskript vergessen hatte, an dem ich noch hatte arbeiten wollen. Deshalb bin ich noch mal ins Büro. Er hatte nicht mit mir gerechnet, und das Model wohl auch nicht. Ich habe die beiden in einer kompromittierenden Stellung erwischt und bin gegangen.«
»Es war in deinem Büro?«
»Ich nahm an, dass er das Feld bis zum Montag geräumt haben würde«, meinte Ann trocken.
»Was er wohl auch getan hat, oder?«
»Jawohl.«
»Hat er denn angerufen und Anstalten gemacht, sich zu entschuldigen? Das Ganze zu erklären?«
»Er hat angerufen. Aber ich habe ihm versichert, dass er sich seine Worte sparen könne.«
Offenbar hatte der Mann ihre Cousine sehr verletzt. Aber Ann neigte
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