Reich der Schatten
zu tun. Mit jedem Schritt wuchs ihre Angst, aber auch ihre Entschlossenheit. Zwischen dichten Bäumen und Gestrüpp hindurch erblickte sie ein Gebäude. Es schien seltsam fahl zu leuchten, wie das Licht des Mondes, wenn er von Wolken und Dunst verhangen ist. In Gedanken wiederholte sie die Worte: »Hilf mir!«, wieder und immer wieder, auch wenn sie nicht wusste, wen sie um Hilfe bat; sie glaubte nur, ja sie musste fest daran glauben, dass er dort sein würde.
Beim Aufwachen hatte sie eine logische Erklärung für diesen Traum gehabt: Es war um ihren Großvater gegangen, den sie sehr liebte und der in Schwierigkeiten steckte. Sie musste zu ihm, weil er krank war. Sie schalt sich für ihren Egoismus und ihre Dummheit, dass sie nicht gleich mit dem nächsten Flugzeug zu ihm reiste. Der Traum war ein Zeichen, dass ihr Großvater sie brauchte, und ihre Angst vor den Schatten war eigentlich die Angst um ihn, weil er doch krank war.
Aber ungeachtet all ihrer vernünftigen Erklärungen hatte sie das Gefühl, dass ein bestimmter Lebensabschnitt zu Ende ging und ein neuer seinen Anfang nahm. Was kommen würde, wusste sie nicht, doch es kam ihr vor, als habe sie ihr Leben lang darauf gewartet und jetzt sei die Zeit reif.
An diesem Punkt war Jacob ins Spiel gekommen. Sie mochte ihn wirklich sehr, er war wunderbar, lustig, sinnlich, jemand, bei dem sie sich erden konnte, wenn ihre Fantasie wieder einmal zu Höhenflügen ansetzte. Aber es gab eben noch etwas anderes, und sie musste nach Paris, um herauszufinden, was es war.
Ziemlich verrückt. Und dennoch …
… war es ihr richtig erschienen.
Verrückt, aber richtig. Sie hatte keine Ahnung, warum es ihr richtig erschien. Sie hatte nicht die Absicht, für immer in Paris zu bleiben. Es war nicht ihr Zuhause – New York war ihr Zuhause.
Doch der Ruf nach Paris und dem, wonach sie suchte, war unglaublich stark.
»Vielleicht sollte ich mit nach New York und Jacob kennenlernen«, meinte Ann und holte sie damit aus ihrer Grübelei.
»Vielleicht«, erwiderte Tara. »Ich nehme an, ich habe ihn nicht richtig geliebt.« Ann war immer wahnsinnig nüchtern und praktisch. Ihr solch vage Gefühle zu erklären war völlig ausgeschlossen.
Ann schüttelte verständnislos den Kopf. »Na toll! Du gibst dem perfekten Mann den Laufpass, und jetzt rückst du nicht mit der Sprache raus. Der Mann, den ich liebe, betrügt mich, und du bist der Meinung, ich soll ihm verzeihen. Du hingegen hast jemanden, der offen, ehrlich und treu ist, doch du liebst ihn nicht richtig.«
»Ich mag ihn, ich mag ihn sogar sehr. Aber eben nicht genug.«
Ann musterte sie eine Weile stumm, dann zuckte sie die Schultern. »Tja, wenn ich uns beide so ansehe … Wir sollten wirklich durch die Kneipen ziehen. Dort findet man zwar kaum den Richtigen, aber bei der Arbeit findet man ihn wohl auch nicht. Und ich arbeite Tag und Nacht, oder zumindest kommt mir das so vor.«
»Ja, wir sollten ausgehen, und das werden wir auch ganz bestimmt. Wir müssen ja nicht auf Männerjagd gehen«, meinte Tara. »Aber nicht heute Abend. Ich bin wahnsinnig müde. Jetzt einen gut aussehenden Mann kennenzulernen würde ich wahrscheinlich nicht verkraften; selbst ein Netter, ja sogar ein Hässlicher, der mir nur einen Drink spendieren will, wäre zu viel.«
»Dann eben morgen Abend.«
»Warum nicht.«
»Na gut, dann fahren wir jetzt zum Château. Du kannst dir selbst anhören, was Großpapa zu sagen hat. Rede doch gleich heute Nachmittag mit ihm, ich fahre dann noch einmal ins Büro.«
»Vielleicht kannst du dich mit Willem aussprechen.«
»Ich habe meinen Brieföffner immer dabei.« Ann winkte den Kellner herbei und bestand darauf, die Rechnung zu übernehmen.
Sie hatten gerade ihre Stühle zurückgeschoben, als Ann plötzlich erstarrte, Taras Arm packte und sie wegzog.
»Was ist denn los?«
»Gehen wir. Schnell!«
»Was ist los?«
»Willem«, knurrte Ann.
»Willem? Wo?«
Tara versuchte, sich umzudrehen, sie hätte den Mann, in den ihre Cousine so verliebt gewesen war, zu gern gesehen. Doch Ann zog sie weiter. Trotzdem erhaschte sie einen flüchtigen Blick auf den Mann: Er war groß und blond und trug einen flotten Maßanzug. Als er kurz stehen blieb, um sich eine Zigarette anzuzünden, fiel ihm eine Haarlocke über seine dunkle Sonnenbrille. Er setzte sich an den Tisch, den sie soeben verlassen hatten.
»Hör auf zu gaffen! Lass uns gehen!«
»Na ja – du arbeitest doch noch mit ihm zusammen. Du könntest mich vorstellen,
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