Reid 2 Die ungehorsame Braut
das Gespräch mit ihr suchen würde, sobald er wieder in London wäre. Das, und noch viel mehr, wenn es nach ihm ging.
Wieder in London, ritt er geradewegs zu ihrem Elternhaus, wo er feststellen musste, dass er sie um eine halbe Stunde verpasst hatte. Sie sei mit ihrer Mutter in die Bond Street zum Einkaufen gefahren, sagte man ihm. Und nein, sie hätten nichts darüber verlauten lassen, welche Geschäfte sie aufzusuchen gedachten. Das Klügste wäre, wenn er im Salon auf sie wartete. Es bestand kaum Hoffnung, sie am Nachmittag auf einer so belebten Straße wie der Bond Street zu finden. Er würde in jedes einzelne Geschäft gehen müssen.
Nichtsdestotrotz machte er sich auf den Weg.
* * *
Ophelia hatte sich noch nie so zerstreut gefühlt. So sehr sie sich auch Mühe gab, es wollte ihr partout nicht gelingen, sich auf ihre Mutter zu konzentrieren, die sie von einem Geschäft ins nächste schleifte. Wenn es darum ging, ob sie etwas kaufen wollte, brachte sie mühsam ein Ja oder Nein hervor, hatte aber keine Ahnung, worum es eigentlich ging.
Sie erwartete ein Kind. Es war sinnlos, sich weiter davon überzeugen zu wollen, dass dem nicht so war. Nicht nachdem ihr der Duft ihrer Leibspeise Übelkeit beschert hatte.
Sie erwartete ein Kind. Ein einziger Fehltritt, und schon geschah ein Wunder. Ein Baby. Sie konnte selbst kaum fassen, dass die Erkenntnis ihr Freude bereitete. Wie töricht von ihr, sich das nicht schon früher einzugestehen. Wie wundervoll hingegen, dass ihre mütterlichen Instinkte bereits erwacht waren. Dieses Kind würde es gut haben. Da sie so gut wie nichts über Kindererziehung wusste, würde sie es bestimmt richtig machen.
Dieses Kind würde geliebt, genährt und beschützt werden. Bei Diskussionen um das Wohlergehen ihrer Leibesfrucht würde sie nicht auf ihre Eltern hören. Sie liebte ihre Mutter, wusste aber auch, dass sie sich Shermans Willen stets gebeugt hatte. Ophelia würde das nicht tun. Sie würde wie eine Löwin kämpfen.
Zwar wäre es das Beste, wenn sie Rafe von der Schwangerschaft erzählte, aber dafür war ja später auch noch Zeit. Sie wollte das süße Geheimnis noch ein wenig selbst genießen -wenigstens eine Weile. Da er sich entschieden hatte, nicht mit ihr zusammenzuleben, hatte er auch kein Recht darauf, sofort zu erfahren, dass sie sein Kind unter dem Herzen trug. Wenn es nach ihr ging, konnte er sogar die Geburt seines Kindes verpassen. Bevor es aber so weit war, dass sie das Kind zur Welt brachte, musste sie ihre Wut ein für alle Mal abstreifen. In der Gegenwart ihres Kindes würde nämlich nicht geschrien werden.
»Pheli? Pheli, alles in Ordnung?«
Ophelia konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart und bemerkte, dass ihre Mutter gerade ein Geschäft betreten hatte, in dessen winzigem Schaufenster unzählige Spitzenballen ausgestellt waren. Sie drehte sich um, um zu wissen, wer sie angesprochen hatte. Verdutzt stellte sie fest, dass es sich um Mavis Newbolt handelte, die neben ihr auf dem überfüllten Gehweg stand, die Hände in einem Muff versteckt. Ihr Gesicht war von Sorge überzogen. Mavis? Ihre ärgste Feindin war in Sorge um sie? Nicht sehr wahrscheinlich.
Was hatte Mavis gesagt? Ach ja. »Mir geht es gut«, antwortete Ophelia ein wenig misstrauisch. Sie und Mavis hatten sich seit Summers Glade nicht mehr gesehen, und die beiden heftigen Auseinandersetzungen, zu denen es dort gekommen war,
waren nicht im Geringsten angenehm gewesen. »Warum fragst du?«
Mavis zog eine Schulter hoch. »Du hast ausgesehen, als wärst du mit deinen Gedanken ganz weit weg.«
»Habe ich das? Und selbst wenn, das kann jedem einmal passieren.«
»Wie dem auch sei, ich bin mit der Kutsche an dir vorbeigefahren und habe dich gesehen. Da musste ich einfach anhalten.«
Ophelia war augenblicklich auf der Hut. Sie würden jetzt nicht schon wieder streiten, oder? »Warum?«, fragte sie mit spitzer Stimme.
Es war eigenartig, aber Mavis schien sich urplötzlich sehr unwohl zu fühlen. »Schon seit einigen Tagen habe ich mir vorgenommen, dir einen Besuch abzustatten. Hättest du Lust auf eine Kutschfahrt, damit wir uns unterhalten können? Meine Kutsche steht dort auf der anderen Straßenseite.«
»Unterhalten? Was gäbe es denn zwischen uns noch zu bereden? Ist nicht alles längst gesagt?«
Mavis machte einen Schritt zur Seite, um ein Paar passieren zu lassen, das Arm in Arm lief. Auf dem Gehsteig waren fast genauso viele Menschen unterwegs wie Kutschen, Karren und Schubkarren auf
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