Reif für die Insel
ersten Sylt-Aufenthalt und die ersten Stunden am Nacktstrand.
Paul lässt sich treiben. Ob der Wind, der ihn nach Westerland geweht hat, es gut mit ihm meint, weiß er noch nicht. |34| Aber seit er im Hotel Stadt Hamburg eingecheckt hat, weiß er ganz sicher, dass er sich ihm überlassen muss. Die Segel sind gefallen, der Wind wird mit ihm machen, was er will. Die Frage »Warum ausgerechnet Sylt?« ist so überflüssig wie der Versuch, vor diesem Wind zu segeln.
Der schattige Teil der Strandstraße ist voller Leben. Wer erst zum Meer gehen will, wenn die Hitze erträglicher geworden ist, vertreibt sich mit Shoppen die Zeit oder sitzt vor den Cafés und Kneipen. Paul will weder das eine noch das andere, er will sich weiter treiben lassen, genau in der Mitte der Straße, wo die Sonne scheint, vor der alle anderen flüchten. Das ist gut so. Paul wird nicht zur Seite gedrängt, er läuft auf der Naht zwischen der linken und der rechten Geschäftszeile. Er liebt die Symmetrie. Es gibt Tage, an denen braucht er sie sogar. Heute hat er sie nicht nötig, aber es tut ihm dennoch gut, sich die Symmetrie zu leisten. Sie hilft ihm, sich aufzurichten, den Blick nicht zu Boden, sondern zur nächsten Straßenecke zu werfen und mit großen, langsamen Schritten zu gehen. Vorbei an denen, die sich in dem Laden neben dem Hotel mit Zeitschriften eindecken, an denen, die sich schräg gegenüber für ihre Vierbeiner ein strassbesetztes Halsband ausgesucht haben, vorbei an den Bier-, Prosecco- und Kaffeetrinkern, die ihn gleichgültig betrachten, weil sie nicht ahnen können, warum er hier ist. Keiner weiß, dass er es ihnen allen zeigen will, keiner kennt seine Wut. Wut auf Sophia, auf den Rest der Clique, auf Uschi, auf … auf die ganze Welt. So voller Wut ist er, dass es nun sein muss. Hier auf Sylt! Es geht nicht anders. Ja, er wird’s ihnen zeigen! Allen miteinander!
|35| Am Ende der Strandstraße wird er auf ein Riff geworfen.
»Gästekarte?«
Er hat keine. Das Betreten des Strandes ist ihm verboten.
»Besorgen Sie sich eine im Syltness-Center.« Der Strandwärter weist hinter sich, durch die Sylter Welle hindurch. »Dort ist geöffnet.«
Paul lässt sich von einer Frau, die im Besitz einer Gästekarte ist, beiseiteschieben und geht zurück. Noch vor dem Café Wien biegt er rechts ab und bummelt zur Friedrichstraße, dem Geruch von gebratenem Fisch entgegen. Er hat die Wahl zwischen Fisch-Blum und Gosch und entscheidet sich für die Theke, vor der die Schlange der Wartenden am kürzesten ist. Ob die Fischbrötchen noch genauso gut schmecken wie vor vierzig Jahren? Es fällt ihm schwer, sich zu entscheiden. Matjes, Lachs, Krabben, Makrelen stecken zwischen den weißen Brötchenhälften. Schließlich zeigt er auf einen Brathering, der zusammen mit riesigen Zwiebelringen aus einem Brötchen herausschaut.
Die Verkäuferin legt das Fischbrötchen in eine dünne Papierserviette und hält es ihm entgegen. »Lassen Sie es sich schmecken!«
Leichter gesagt als getan. Für ein Fischbrötchen braucht man einen großen Mund, zwei freie Hände, eine sensible Gaumenführung und entweder die ganze Aufmerksamkeit oder pflegeleichte Kleidung, am besten beides. Paul erkennt das Problem auf den ersten Blick und beschließt, sich nicht zu viel abzuverlangen. Während des Verzehrs eines Fischbrötchens weiterzubummeln, Schaufensterauslagen zu betrachten, eiligen Passanten auszuweichen oder gar in einem |36| Geschäft nach einem Preis zu fragen, ist bodenloser Leichtsinn.
Er stellt sich mit anderen Fischbrötchenessern an die Straßenecke, beugt wie sie den Oberkörper weit vor, verlagert den Moment des Zubeißens auf den äußersten Punkt und hofft, dass niemand ihn von hinten anrempelt. Die Kraft muss gut bemessen werden. Wer glaubt, die Zähne kräftig ins Brötchen schlagen zu müssen, läuft Gefahr, dass der Inhalt herausquillt und auf dem Pflaster der Friedrichstraße landet. Damit ist er dann noch gut gefahren, denn die Bescherung hätte auch den Umweg über ein Hosenbein nehmen können. Wer aber zaghaft zubeißt, wird in der oberen Brötchenhälfte steckenbleiben, weil sie über dem feuchten Fisch nicht mehr knusprig, sondern durchweicht und damit zäh geworden ist. Wer dann nachdrückt, hat schon verloren und die gleiche Bescherung wie die resoluten Zubeißer. Als Paul das Problem durchschaut hat, ist er schon um ein paar Zwiebelringe ärmer und um die Erfahrung reicher, dass ein glitschiger Fisch sich dem Druck entzieht und in
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