Reif für die Insel
ist, ist die gerechte Strafe für meinen verpatzten Auftritt. Ich bin froh, als ich mich zurücklehnen kann. Aber die vom Gummiband getrennte Wölbung ist mir geblieben. Im vergangenen Jahr, als ich, ohne es zu ahnen, den letzten Urlaub mit Georg verbrachte, war sie sicherlich auch schon da, aber ich habe sie nicht zur Kenntnis genommen. Ob Georg sie bemerkt hat?
3.
Die Friedrichstraße ist plötzlich voller Menschen, die ihm ins Gesicht sehen. Seit die dicke Frau mit dem Krabbenbrötchen die Tür zu seiner Anonymität aufgestoßen hat, fühlt Paul sich beobachtet. Der Eisverkäufer — betrachtet er ihn nicht besonders aufmerksam, als er ihm das Hörnchen reicht? Das Lächeln des Straßenverkäufers, dem er ein Lesezeichen |43| mit einem Sylter Motiv abkauft – ist es nicht forschend statt freundlich? Und dann das junge Mädchen, dem er das Stirnband nachträgt, das aus ihrer Einkaufstasche gerutscht ist! Es schaut ihn an, als wollte es sich später an ihn erinnern. Pauls Angst nimmt zu. Er verteilt das Wechselgeld, das ihm der Straßenverkäufer gegeben hat, auf beide Hände, umschließt fest die tröstliche Symmetrie. Und wieder rumort in ihm die Frage: Warum ausgerechnet auf Sylt? Und … warum überhaupt?
Auf der rechten Seite kommt die kleine Badebuchhandlung in Sicht. Ein Aufsteller vor der Eingangstür weist auf die Lesung des Bestsellerautors David Davidson im Alten Kursaal von Westerland hin. »Der Autor ohne Gesicht!«
Das komplette Schaufenster ist mit seinen Romanen dekoriert. Paul betrachtet jedes einzelne Buch, dann tritt er einen Schritt zurück und lässt das Gesamtwerk des Autors auf sich wirken. Es ergibt ein schönes Bild. In der Mitte das neueste Werk, rechts und links daneben alle anderen, die zum Glück eine gerade Zahl ergeben und sich symmetrisch aufteilen lassen. Alle David-Davidson-Bücher haben einen dunklen Hintergrund, davor prangt das Gemälde eines alten Meisters. Auf seinem ersten Buch »Geburt der Venus« von Sandro Botticelli, auf einem anderen »Das große blaue Pferd« von Franz Marc. Sein neuestes Werk trägt das wunderbare Bild von Claude Monet: »Aufgehende Sonne«. Dem Buchhändler ist es gelungen, die Vielzahl der Gemälde zu einem einzigen zusammenzufügen, zu einem einzigartigen Bild mit dem Titel: »Die Werke David Davidsons!« Paul ist ehrlich beeindruckt.
|44| Eine Frau stellt sich neben ihn. »Wahnsinn, was dieser Autor geschaffen hat! Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass er ein Mensch ist wie du und ich.« Sie kichert und ergänzt: »Wie Sie und ich, meine ich natürlich.«
Paul kann kichernde Frauen nicht ausstehen. Das ist so, seit Sophia mit ihrem Kichern diese Angst in ihm erzeugt hat. Männer kichern niemals, sie schmunzeln, lachen leise oder brummen sich feixend etwas in den Bart, wenn sie nicht lauthals herauslachen. Frauen dagegen produzieren dieses schrille Stakkato auf der höchsten Stelle ihres Gaumens, direkt unter der Zungenspitze, die sie dann nach innen wölben, als wollten sie dem Kichern einen Klang geben. Erträglicher wird es dadurch nicht. Kichern ist und bleibt die boshafte Schwester des Lachens.
Paul bringt nicht einmal ein höfliches Lächeln zustande. Zum Glück enthebt ihn der Buchhändler einer Antwort, die nicht halb so charmant ausgefallen wäre, wie die Frau es erwartet. Sie sieht Paul neckisch an, weil sie an einen gelungenen Scherz glaubt.
Der Buchhändler ist, wie erwartet, erheblich konzilianter. Er schafft es, der Frau sein aufmerksames Gesicht zuzuwenden, während er das Fahrrad entfernt, das das Plakat auf seinem Aufsteller verdeckt. Es trägt das Bild des neuesten Buches von David Davidson, das soeben erschienen ist.
»Wird Davidson wirklich selber lesen?«, erkundigt sich die Frau.
Der Buchhändler schiebt seine Brille mit den winzigen runden Gläsern auf die Nasenspitze und lächelt. »Ja, das wird er.«
|45| »Aber er hat noch nie selber gelesen!«, ruft die Frau, als sei damit die Unredlichkeit des Buchhändlers bewiesen. »Er wird nicht umsonst der ›Autor ohne Gesicht‹ genannt. Niemand weiß, wer hinter dem Namen steckt.«
»Demnächst wird er ein Gesicht haben«, sagt der Buchhändler und weist in seinen Laden. »Bei mir finden Sie jede Zeile, die David Davidson jemals geschrieben hat.«
Die Frau fühlt sich persönlich eingeladen und betritt die Buchhandlung wie ein Ehrengast. Paul folgt ihr und sieht sich in dem schmalen, aber tiefen Raum um. Ja, so muss eine Buchhandlung aussehen! Paul kann riesige
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