Reif für die Insel

Nachbarhauses hockt eine Frau in einem himmelblauen Jogginganzug, die ein Buch auf dem Schoß hält. Paul erkennt sofort, dass es seine Neuerscheinung |150| ist, das Buch, das er während des Trennungsjahres geschrieben hat. Es erzählt von einem jungen Mann, der dem Mädchen, das er liebt, ein Gedicht schreibt – »Was ich dir sagen will«. Tonia Gefron war erst bereit, seinem neuesten Buch diesen Titel zu geben, nachdem Paul als Gegenleistung angeboten hatte, seine erste öffentliche Lesung zu bestreiten. Tonia wusste, dass damit aus diesem Buch ein Bestseller werden würde, und hatte schließlich eingewilligt.
    Nun erst erkennt er Sophia. Sie tritt, mit dem Buch in der Hand, auf ihn zu, als hätte sie ihn erwartet. »Es hat lange gedauert«, sagt sie, »aber nun ist mir endlich der Titel des Gedichtes wieder eingefallen, das du vor vierzig Jahren für mich geschrieben hast.« Sie hält ihm das Buch hin, als wollte sie es ihm schenken. »Wann sagst du es mir endlich?«

10.
    Wie soll ich das bloß Elena erzählen? Darüber schweigen, dass ich Paul wieder getroffen habe, das geht jetzt nicht mehr. Diese Begegnung nach vierzig Jahren wird keine flüchtige sein, da bin ich mir sicher. Ich war es, noch bevor Paul mir erklärte, warum ich vergeblich im Café Orth auf ihn gewartet habe. Warum seine Lesung geplatzt war, brauchte er mir nicht zu erklären. Ich verstand es im selben Moment, in dem ich durchschaute, dass er David Davidson ist. Ausgerechnet Paul! Wer hätte das gedacht? Elena muss das erfahren, unbedingt! Mein Gott, die wird Augen machen!
    Ohne ein Wort gehen wir in mein Haus und ziehen die |151| Tür hinter uns fest ins Schloss. Ich höre Raffael Sielmanns Auto vorfahren und schiebe den Gedanken beiseite, ob er von Uschi zurückkehrt.
    In diesem Augenblick entschließe ich mich, nicht mit Paul in den Garten zu gehen, obwohl der heraufziehende Abend wunderbar frisch und würzig ist.
    Nein, diesmal wird nichts dazwischenkommen. Johnnys Gegenwart nicht, Tonias Stimme nicht und erst recht nicht Raffael Sielmanns Nähe.
    Die Dämmerung senkt sich über mein Haus. Im Garten werden die Schatten länger, die Gerüche, die durch die geöffnete Terrassentür dringen, werden intensiver. Es duftet nach feuchter Erde, reifem Obst, nassem Laub und nach Abendessen. Eine Mischung, wie es sie nur im Hochsommer gibt. Und nur nach einem Gewitter.
    Ich zünde einige Kerzen an. Über Pauls Gesicht flackern Schatten, die ihn älter machen. Alles ist genau richtig. Wir dürfen die vierzig Jahre, die vergangen sind, nicht vergessen lassen durch das richtige Licht oder durch falsche Komplimente. Ich gieße Tee ein, der Kandis knackt, die Sahne steigt vom Grund der Tasse auf in feinen weißen Ringen. Ich gebe Paul das Buch in die Hand und setze mich aufrecht hin. Er betrachtet mich lange, und es fällt mir nicht schwer, seinem Blick standzuhalten. Dann endlich zieht ein Lächeln über sein Gesicht, und er schlägt das Buch auf. Seine Stimme ist leise, aber nicht ängstlich, seine Hände zittern nicht, er lehnt sich bequem zurück und schlägt die Beine übereinander. Draußen schreit eine Möwe, als er zu lesen beginnt: »Was ich dir sagen will …«

 
    |152| Mein Dank geht an
    Rolf K. Klaumann, der mir für dieses Buch seine Badebuchhandlung in Westerland zur Verfügung stellte,
    meine Freundin Gisela Tinnermann, die meine erste Lektorin war,
    meine Freundin, die Schriftstellerin Rebekka Wulff, für ihre guten Ratschläge.

Informationen zum Buch
    Eine Liebe auf Sylt
     
    Paul fährt nach Sylt, um sich zu erholen. Sein Ehe ist kaputt, der Rosenkrieg hat begonnen. Auf der Insel hat er vor vielen Jahren seine große Liebe getroffen – und verloren. Auch Sophia ist zurück auf die Insel gekommen. Ihr Mann hat sie wegen einer Jüngeren verlassen. Zum Glück ist ihr das schöne Haus am Watt beblieben. Hierhin zieht sie sich voller Selbstzweifel zurück. Am Strand entdeckt Paul die verlorene Sophia wieder.
     
    Gisa Pauly schreibt die schönsten und spannendsten Sylt-Romane.

Informationen zur Autorin
    GISA PAULY arbeitet seit 1993 als freie Schriftstellerin, Journalistin und Drehbuchautorin. Sie lebt in Münster, Westfalen. Von ihr erschienen die Sylt-Krimis spielt: „Die Tote am Watt“, „Gestrandet“ sowie „Tod im Dünengras“.
    Bei Rütten & Loening erschienen von ihr zwei weitere Sylt-Romane „Die Hebamme von Sylt“ sowie „Deine Spuren im Sand“. Im Aufbau Taschenbuch Verlag veröffentlichte sie „Die Frau des