Reif für die Insel
kühlen sich mit ein paar schwunglosen Schwimmbewegungen ab, legen sich dann auf den Rücken und lassen sich — mit dem Gesicht zum Strand — treiben.
Warum fällt es mir so schwer, diese Bühne zu betreten und meine Rolle zu spielen? Ja, Elena, du hättest eine Antwort darauf, aber die will ich nicht hören. Weitergehen und meine Decke dort ausbreiten, wo Georg es getan hätte? Irgendwo zwischen dem Meer und den Dünen! Nah genug am Wasser, aber nicht so nah, dass man in den Kreis der Ballspiele gerät. Nah genug am nächsten Sonnenbadenden, |40| sodass man sich ein paar freundliche Worte zurufen kann, aber doch weit genug entfernt, damit man sich kein Gespräch aufzwingen lassen muss.
»Moin!«
Ich trete zur Seite, lasse das Paar an mir vorbeigehen, das etwa in meinem Alter ist. Der Mann geht voraus, sucht sich genau den Platz aus, den auch Georg gewählt hätte, verständigt sich kurz mit seiner Frau, die freundlich nickt. Bevor die beiden sich dort einrichten, lassen sie ihre Shorts auf die Füße fallen und ziehen bedächtig die T-Shirts über den Kopf. Die Unterwäsche folgt genauso gemächlich. Die beiden Körper stehen im Scheinwerferlicht der Sonne, drehen sich vor ihren Zuschauern, sehr selbstbewusst, ganz und gar unaffektiert. Trotzdem sieht es, als sie sich bücken, um die Decke auszubreiten, so aus, als verneigten sie sich vor dem Applaus.
Und was ist mit mir? Vor vierzig Jahren wären Leute wie ich, die sich bekleidet auf eine Düne stellen und den Blick über den Nacktstrand wandern lassen, sofort als Spanner entlarvt und beschimpft worden. Zum Glück ist das heute anders. Ich sehe einen Mann in Badeshorts von der Wasserkante kommen, der sich zu einer Frau auf die Decke setzt, die dort gelangweilt mit ihrer Nacktheit spielt, indem sie ihre Brüste wiegt und ihre Bauchdecke glättet. Heutzutage hat jeder die Freiheit, sich zu entscheiden. Als ich sechzehn war, gab es diese Freiheit noch nicht. Wer so frei sein wollte, sich nackt am Strand zu bewegen, war gleichzeitig dazu verpflichtet. Wer sich nicht ausziehen wollte, war heuchlerisch oder ein Opfer von Autoritäten, die auch was |41| gegen Drogen, sexuelle Freiheit, Mao und Jimi Hendrix hatten und nichts gegen den Kuppelei-Paragraphen taten, der der Emanzipation immer noch im Wege stand. Es kommt mir vor, als wäre das nicht vierzig, sondern vierhundert Jahre her.
Anscheinend bin ich die Einzige, die allein zum Strand gekommen ist. Und es ist ausgesprochen lästig, dass mir Elenas Mahnungen nicht aus dem Sinn gehen. Wo suche ich mir ein Plätzchen? Wo werde ich mich wohlfühlen?
Als ich noch zusammen mit Georg zum Strand fuhr, habe ich mir nie Gedanken gemacht, wie mein Körper auf andere wirkt. Ich habe mich sicher gefühlt in der Gegenwart meines Mannes. Nun aber lebt er mit einer Frau zusammen, die einen jungen Körper hat, und alles ist anders. Der Kreis hat sich geschlossen. Als ich sechzehn war, habe ich mich am Nacktstrand nicht wohl gefühlt, weil ich jung war, jetzt fühle ich mich nicht wohl, weil ich nicht mehr jung bin. Eins so verrückt wie das andere. Möglich aber auch, dass ich vor vierzig Jahren, bei meinem ersten Besuch am Nacktstrand, mein Vertrauen verloren habe. Du hast damals mit dem Abenteuer gespielt, Elena, ich dagegen bin von ihm besiegt worden. Ich fühle mich plötzlich genauso allein und angreifbar wie damals. Dass mir ein Haus auf Sylt gehört, hilft mir in diesem Augenblick nicht. Und dass mich vor einer Stunde ein attraktiver Schriftsteller sehr aufmerksam angesehen hat, auch nicht.
Es muss etwas geschehen. Ich kann nicht ewig hier stehen bleiben. Ich glaube, ich verzichte besser auf meinen Auftritt! Ich drehe der Bühne den Rücken zu und entscheide mich |42| kurzerhand für eine Mulde oberhalb des Strandes. Hier können mich nur die mit Luftmatratzen und Kühltaschen beladenen Urlauber sehen, und die spielen keine Rolle. Das sind nicht die Leute, die auf einen anderen Körper mit Herablassung, Mitleid oder Abwehr reagieren, mit Freundlichkeit auch nicht. Vielleicht werden sie später dazu, wenn sie sich lange genug in der Langeweile gesonnt haben und an der Wasserkante entlang flaniert sind. Bei ihrer Ankunft jedoch sind sie viel zu sehr mit dem Gepäck beschäftigt und mit der Frage, welcher Liegeplatz der Richtige für sie ist.
Ich lasse mir die Shorts nicht auf die Füße fallen, sondern folge ihnen und setze mich auf die Decke, um sie mir über die Füße zu streifen. Dass mir mein Bauch dabei im Wege
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