Reif für die Insel
eine Richtung ausweicht, die selten erwünscht ist. Infolgedessen hat er ein Stück Brötchen im Mund und einen Teil des Bratherings auf den Schuhen liegen. Direkt daneben landet eine Möwe und sieht den Brathering gierig an. Paul macht einen Schritt zur Seite, man ist ja kein Unmensch.
Leider tritt er damit einer dicken Dame in den Weg, die sich in ein Krabbenbrötchen verkeilt hat und der frohen Erwartung entgegenbeißt, mit dem nächsten Happen mindestens sieben Krabben und einen guten Schluck Cocktailsoße |37| herunterzuschlingen. Jeder Fischbrötchenesser weiß, dass eine geringe Kursabweichung verheerende Folgen haben kann. In diesem Fall hat Paul mit seinem linken Ellbogen den rechten Unterarm der Frau berührt und damit die direkte Zufuhr in einen ungünstigen Winkel versetzt. Das Krabbenbrötchen landet nicht zwischen den Vorderzähnen der dicken Dame, sondern in einem Mundwinkel, wo es ziemlichen Unfug anrichtet. Jedenfalls sickert von dort ein Rinnsal der Cocktailsoße herab, in dem eine Krabbe schwimmt, die Kurs auf das üppige Dekolletee nimmt und ausgerechnet dort landet, wo sie sich wunderbar einschmiegen kann.
Paul ist neben der Dame der Einzige, den die hektische Suche nach der Krabbe nicht amüsiert. Allen anderen vertreibt das Schauspiel die träge Langeweile auf das angenehmste. Aber lediglich eine Möwe hat den Weg der Krabbe bis zu ihrem Ziel verfolgt, nimmt sie zwischen den Füßen der empörten Dame auf und schwingt sich damit in die Lüfte.
»Gucken Sie sich mein Kleid an!«
Paul guckt es sich an. Ja, rosa Cocktailsoße macht sich nicht gut auf weißem Leinen. Aber der Frau in Aussicht stellen, für die Kosten der Reinigung aufzukommen? Ihr womöglich seinen Namen nennen? Nein, Paul schließt sich der Meinung eines stoischen Urlaubers aus dem Ruhrgebiet an. »Nun stellen Sie sich doch nicht so an. Er hat’s ja nicht mit Absicht getan.«
Damit hat die Dame ein neues Ziel für ihre Empörung gefunden, was Paul die Gelegenheit gibt, sich heimlich |38| davonzumachen. Noch kann er sich sicher fühlen. Die dicke Dame hat sich mehr um ihr Dekolletee und ihr weißes Leinenkleid als um sein Gesicht gekümmert. Später wird sie vielleicht sagen: »Das könnte der Kerl sein, der mir mein Kleid versaut hat.« Aber ganz sicher wird sie vermutlich nicht sein. Und dabei muss es unbedingt bleiben. Niemand darf wissen, warum er hier ist. Niemand soll ahnen, was er vorhat. Jetzt noch nicht!
Endlich! Das Dünental ist durchschritten, links von mir duckt sich das kleine Holzhaus, in dem die Strandsauna untergebracht ist. Sie hat uns damals nicht interessiert und geht mich auch heute nichts an. Vor vierzig Jahren war keiner von uns jemals in einer Sauna gewesen, und niemand wollte es riskieren, dort etwas falsch zu machen. An meiner Abneigung hat sich im Laufe der Jahre nichts geändert, ich habe Georg immer alleine saunieren lassen. Ich mag es nicht, wenn der Schweiß aus meinen Poren tritt. Mir ist dann, als würde Schmutz aus mir herausgeschwemmt, von dem ich nichts wissen will.
Nun noch der kurze Anstieg auf den Kamm der letzten Düne, dann liegt der Strand vor mir. Schneeweiß, von gleißender Helligkeit. Ein schönes Bild! Friedlich und ohne die Nachdrücklichkeit, aus der Ernst entsteht.
»Warum zögerst du?«, würde Elena mich jetzt fragen, mir ihre Faust in den Rücken rammen und mich vorwärts drängen.
Ja, warum zögere ich? Weil ich einen Auftritt habe! Weil ich ganz allein eine Bühne betrete, wo mich die Aufmerksamkeit |39| eines trägen Publikums erwartet. Es liegt auf Decken und Badelaken, sitzt auf Strandstühlen oder wandert behäbig zwischen Wasserkante und Liegeplatz hin und her. Es hat nichts Besseres zu tun, als andere zu betrachten. Eine Frau allein! Ledig, geschieden oder verwitwet? Die Fragen entstehen schnell, die Antworten ebenso. Jedenfalls, wenn ich Elena glauben darf.
»Wenn sie dich ansehen, als könnten sie dich hassen, kannst du zufrieden sein, dann taugst du zur Konkurrentin. Mitleid und Herablassung können schlecht verhohlene Angst sein, dein Marktwert ist also noch stabil. Wirklich schlimm ist es, wenn eine gleichaltrige Frau dir freundlich entgegenlächelt. Dann kannst du dich gleich begraben lassen.«
Es ist zu heiß für muntere Ballspiele. Nicht einmal das Meer spielt mit seiner Brandung, es schwappt lustlos an den Strand. Kein Springen in den Wellen, kein Kreischen, kein Aufruhr. Die sich ins Wasser begeben haben, suchen Erfrischung, keinen Spaß, sie
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