Reise durch die Sonnenwelt
zehnmal so schnell, als es in seinem gewöhnlichen Elemente der Fall gewesen wäre. Kapitän Servadac und Lieutenant Prokop glaubten manchmal in die Luft gehoben zu sein und von einem Aërostaten oberhalb des Eisfeldes dahin geführt zu werden. Und doch blieben sie stets auf dessen Fläche, deren oberste Schicht die eiserne Armatur des Segelschlittens pulverisirte, so daß eine endlose Wolke von Schneestaub hinter ihnen herzog.
Hier überzeugte man sich nun sehr bald davon, daß das Aussehen dieses gefrorenen Meeres überall dasselbe war. Kein athmendes Wesen belebte diese Einöde, die einen recht niederschlagenden Eindruck hervorbrachte. Dennoch fehlte dem meist eintönigen Bilde nicht ein gewisser poetischer Reiz, der auf beide Reisegefährten je nach ihrem Charakter verschieden einwirkte. Lieutenant Prokop beobachtete mehr als Mann der Wissenschaft, Kapitän Servadac als ein für alles Neue empfänglicher Künstler. Als die Sonne dann zur Ruhe ging, und ihre schräg auf den You-You fallenden Strahlen zur Linken desselben die langgezogenen Schatten seiner Segel zeichnete, und endlich die Nacht fast ohne Dämmerung den Tag verdrängte, da rückten die beiden Männer, wie von einer unwiderstehlichen Kraft getrieben, näher zu einander und drückten sich verständnißinnig die Hände.
Da seit dem vorhergehenden Tage Neumond war, wurde die Nacht vollkommen dunkel, nur die Sternbilder leuchteten desto herrlicher an dem schwarzen Himmelsgewölbe. Beim Mangel eines Kompasses hätte Lieutenant Prokop sich ebenso leicht nach dem neuen Polarsterne richten können, der sehr nahe dem Horizonte glänzte. Man begreift ja leicht, daß, so groß auch die Entfernung zwischen Gallia und Sonne wurde, diese doch im Vergleich zu der unermeßbaren Entfernung der Fixsterne eine völlig verschwindende blieb.
Der jetzige Abstand der Gallia war schon ein sehr beträchtlicher. Die letztempfangene Notiz gab darüber deutliche Auskunft. Hiermit beschäftigten sich vor Allem Lieutenant Prokop’s Gedanken, während Kapitän Servadac, einem anderen Ideengange folgend, nur an den oder die seiner Landsleute dachte, welchen er zu Hilfe eilte.
Entsprechend dem zweiten Kepler’schen Gesetze, hatte sich die Geschwindigkeit der Gallia in ihrer Bahn vom 1. März bis zum 1. April um zwanzig Millionen Lieues (= 12 Millionen Meilen) verringert. Ihr Abstand von der Sonne war in demselben Zeitraume um zweiunddreißig Millionen Lieues (= 19 1 / 5 Millionen Meilen) gewachsen. Sie befand sich demnach jetzt nahezu in der Mitte der teleskopischen Planeten, welche zwischen den Bahnen des Mars und des Jupiter kreisen. Hierdurch erklärte sich auch die Entführung jenes Satelliten, nach der letzten Nachricht, der Nerina, d.i. einer der erst jüngst entdeckten Planetoïden.
Die Gallia entfernte sich also nach einem ganz bestimmten Gesetze immer weiter von ihrem Mittelpunkte der Anziehung. Konnte man wohl hoffen, daß es dem Verfasser jener Documente gelingen werde, ihre Bahn zu berechnen und mit mathematischer Sicherheit den Zeitpunkt anzugeben, an dem das Asteroïd sein Aphelium erreichen würde, wenn es überhaupt eine elliptische Bahn beschrieb? Dieser Augenblick fiel dann mit dem größten Sonnenabstände zusammen, von da ab mußte sie sich dem Tagesgestirn wieder nähern. Dann ließ sich sowohl die Dauer des Gallia-Jahres, als auch die Anzahl der Tage desselben genau berechnen.
Lieutenant Prokop grübelte über alle diese beunruhigenden Probleme, als ihn der plötzliche Tagesanbruch überraschte. Kapitän Servadac und er beriethen sich. Da sie die seit ihrer Abfahrt in schnurgerader Linie zurückgelegte Entfernung auf mindestens sechzig Meilen schätzten, beschlossen sie, die Schnelligkeit des You-You zu vermindern. Die Segel wurden also etwas eingezogen und die beiden Männer sandten, trotz der bitteren Kälte, ihre Blicke, ruhig und sorgsam prüfend, über die weiße Ebene.
Diese erwies sich noch immer vollkommen öde. Nicht ein Berg oder Felsen unterbrach ihre tadellose Gleichförmigkeit.
»Befinden wir uns nicht etwa im Westen von Formentera? fragte Kapitän Servadac, nachdem er die einschlägliche Karte gemustert.
– Das mag sein, antwortete Lieutenant Prokop, denn wie bei einer Seefahrt achtete ich auch jetzt darauf, mich unter dem Winde der Insel zu halten. Jetzt werden wir besser auf diese zusegeln können.
– O thun sie es, Lieutenant, drängte Kapitän Servadac, lassen Sie uns keine kostbare Minute verlieren!«
Der Cours des You-You wurde
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