Reise durch die Sonnenwelt
nach Nordosten verändert. Hector Servadac stand trotz des scharfen Windes immer auf dem Vordertheile. Alle seine Kräfte concentrirten sich in seinen Augen. Dabei suchte er in der Luft nicht etwa eine Rauchsäule zu entdecken, die ihm den Zufluchtsort des unglücklichen Gelehrten verriethe, dem es an Brennmaterial wahrscheinlich ebenso wie an Nahrungsmitteln fehlte. Nein! Er bemühte sich nur den Gipfel eines über das Eisfeld emporragenden Eilandes aufzufinden, das die immer gerade Linie des Horizontes unterbräche.
Plötzlich leuchtete Kapitän Servadac’s Auge auf und er wies mit der Hand hinaus in die Ferne.
»Dort! Dort!« rief er.
Er zeigte dabei nach einer Art Holzgerüst, das sich von hier aus gesehen in der kreisförmigen Verbindungslinie zwischen Himmel und Eisfeld erhob.
Lieutenant Prokop ergriff das Fernrohr.
»Ja wahrlich, sagte er, da … da … das ist ein Holzthurm, der zum Zwecke irgend welcher geodätischen Arbeiten errichtet erscheint.«
Hier war kein Zweifel möglich. Die Segel wurden wieder völlig entfaltet und der You-You, der sich nur gegen sechs Kilometer von dem bezeichneten Punkte befand, schoß mit wunderbarer Schnelligkeit darauf zu.
Kapitän Servadac und Lieutenant Prokop vermochten, von ihren Gefühlen überwältigt, kein Wort zu sprechen. Das Holzgerüst wuchs für ihre Augen zusehends und bald nahmen sie auch einen Haufen niedriger Felsen wahr, auf welchen jener Holzbau stand und die mit ihrem Fuße die weiße Ebene des Eisfeldes berührten.
Wie es Kapitän Servadac vermuthet, wirbelte hier keine Rauchsäule empor. Angesichts dieser überaus strengen Kälte schwand jede Illusion.
Sicher war es nur noch ein Grab, auf das der You-You mit vollen Segeln zueilte.
Zehn Minuten später, etwa ein Kilometer vor dem Ziele, zog Lieutenant Prokop die Brigantine ein, da die einmal erlangte Schnelligkeit des Fahrzeuges hinreichen mußte, es bis nach den Felsen zu treiben.
Kapitän Servadac fühlte, wie die Beklommenheit seines Herzens unter der wachsenden Erwartung zunahm.
An der Spitze des Thurmes flatterte im Winde ein Stück blaues Fahnentuch … das letzte Ueberbleibsel einer französischen Flagge.
Der You-You stieß gegen die ersten Felsenstücke. Das Eiland hatte kaum einen halben Kilometer an Umfang. Von Formentera, überhaupt von dem ganzen Archipel der Balearen, war keine weitere Spur zu sehen.
Am Fuße jenes Thurmes erhob sich auch eine unscheinbare, hölzerne Hütte mit dicht geschlossenen Fensterläden.
Mit Blitzeseile schwangen sich Kapitän Servadac und Lieutenant Prokop auf die Felsen, erklommen die glatten Steine und erreichten die Hütte.
Mit wuchtigem Faustschlage donnerte Hector Servadac an ihre von innen verriegelte Thür.
Er rief. Keine Antwort.
»Hierher, Lieutenant!« sagte Kapitän Servadac.
Beide stemmten die Schultern ein und hoben die halb wurmstichige Thür aus den Angeln.
In dem einzigen Raume der Hütte herrschte tiefe Finsterniß und vollständige Ruhe.
Entweder hatte der letzte Inwohner das Gemach schon verlassen oder er war noch darin, aber – als Leiche.
Die Läden wurden aufgestoßen; es ward hell in dem Zimmer.
Auf dem Kaminherde fand sich nichts, außer etwas längst erkaltete Asche.
Da, in einer Ecke stand ein Bett; auf ihm lag ein menschlicher Körper.
Kapitän Servadac trat hinzu und unwillkürlich entrang sich ein Schrei seinen Lippen.
»Todt vor Kälte! todt vor Hunger!«
Lieutenant Prokop beugte sich über den Körper des Armen.
»Er lebt noch!« rief er.
Schnell entkorkte er ein Fläschchen mit einer kräftigen Herzstärkung und wußte dem Sterbenden einige Tropfen derselben zwischen den Lippen einzuflößen.
Da ließ sich ein schwacher Seufzer vernehmen und bald darauf noch wenige kaum hörbar hingehauchte Worte.
»Gallia?
– Ja … ja wohl! … Gallia! … antwortete Kapitän Servadac, das ist …
– Das ist mein Komet, der meine, mein Komet!«
Nach diesen Worten sank der Halbtodte in tiefe Betäubung zurück, während Kapitän Servadac murmelte:
»Aber ich kenne doch diesen Mann! Wo in aller Welt bin ich ihm früher wohl begegnet?«
An Hilfe und Rettung vom Tode war in dieser Hütte, der es geradezu an Allem fehlte, von Anfang an nicht zu denken. Hector Servadac und Lieutenant Prokop kamen schnell zu einem Entschlusse. In wenigen Augenblicken wurde der Sterbende nebst seinen physikalischen und astronomischen Instrumenten, Kleidungsstücken, Büchern und einer alten Thür, die ihm als Rechentafel gedient hatte,
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