Reiterferien am Meer
Mein graues Pferd Misty platschte fröhlich durch die sanft in winzigen Wellen auslaufende Flut. Eine aufkommende Brise ließ seine schwarze Mähne flattern.
Vor mir ritt meine Kusine Babs auf ihrem Schecken Patch. Plötzlich trat ihr Pferd in ein unter dem Wasser verborgenes Loch und wäre fast gestürzt. Doch im letzten Augenblick fing es sich, wobei es so aufgeregt um sich trat, dass sich ein Wasserschwall über Misty und mich ergoss.
Misty war damit gar nicht einverstanden; er warf den Kopf in die Höhe und stieß ein empörtes Wiehern aus.
Babs, deren lange Reithose klatschnass geworden war, blickte kurz auf ihre Armbanduhr und lenkte Patch aus dem Wasser auf den sandigen Strand.
„Es ist halb zwölf, Jackie!“, rief sie mir über die Schulter zu. „Ich denke, wir müssen zurück.“
„Einverstanden!“ Ich bedeutete Misty, ebenfalls an Land zu laufen. „Auf keinen Fall dürfen wir den großen Augenblick verpassen!“
Der große Augenblick! Ja, nun stand unmittelbar bevor, worauf wir mit so großer Spannung gewartet hatten. Wir hatten die Tage gezählt, sogar die Stunden, und nun waren es kaum mehr als zwanzig Minuten, die uns von dem großen Moment in unserem Leben mit Pferden trennten.
„Endlich werden wir Golden Boy in Augenschein nehmen können“, gab Babs meinen Gedanken Ausdruck.
„Es ist wirklich nicht zu fassen“, schwärmte ich. „Wir werden es sehen – das herrliche Pferd, das uns bisher nur von Fotos in der Zeitschrift ‚Hufeisen‘ bekannt ist. Wie wird das erst sein, wenn es leibhaftig vor uns steht!“
„Im Fernsehen haben wir es ja auch schon beobachten können – in voller Bewegung!“
„Weißt du noch“, sagte ich lachend, „wie wir ihm nach dem Großen Preis der Nation eine Glückwunschkarte geschickt haben?“
„Und nachher hast du das neueste Foto von ihm verlegt“, seufzte Babs. „So blöd kannst auch nur du sein!“
„Ach, ich finde die Karte bestimmt wieder“, verteidigte ich mich. „Spätestens, wenn ich verheiratet bin und Kinder habe, die solche Pferdenarren sind wie ich, wird es auftauchen – ein vergilbtes Foto, das irgendwo hinter eine Schublade gerutscht ist.“
„Und dann wirst du es an die Brust drücken und eine Träne darauffallen lassen“, sagte Babs spöttisch.
Ich musste lachen. Babs spornte ihr Pferd an, und wir galoppierten dahin. Dumpf polterten die Hufe über den feinen Sand, durchsichtige Wolken kamen auf, in denen sich die Sonne brach.
Ich war glücklich. Wie schön war es, mit Pferden zusammen zu sein!
Wir galoppierten zu Golden Boy, wir galoppierten, galoppierten zu Golden Boy! Der große Augenblick stand bevor, eine sensationelle Begegnung: Zwei Pferdenärrinnen wie wir und ein Sieger des Großen Preises würden einander begrüßen! Von den Hufen meines galoppierenden Pferdes klang es rhythmisch zu mir herauf:
Golden Boy … Golden Boy …
Einen schöneren Ferienbeginn hätte ich mir nicht vorstellen können. Herrlich lange Tage dehnten sich vor mir, die ich im Stall und im Sattel verbringen würde. Es würden Ferien mit Golden Boy und den Springpferden sein, die der Familie auf dem Nachbargut gehörten. War das Leben nicht wundervoll? Ein Leben voller Freude mit Pferden, Pferden und noch einmal Pferden.
Immer glücklicher fühlte ich mich, während wir unsere Pferde den steilen Serpentinenpfad zu der Felsplatte emporklimmen ließen, auf der man so gut Springübungen machen konnte. Hinter uns lag die See, und vor uns führte mitten durch die Heide der Weg zum Folly-Hof, den vor kurzem der ehemalige Turnierreiter Steve Rowlands erworben hatte. Ihm gehörte Golden Boy, und er war dabei, den Hof in eine Reitschule für Springreiter zu verwandeln.
Der Folly-Hof lag gleich jenseits der Weide des Gutes Cherry Trees, wo ich mit meinen Eltern in den Ferien wohnte. Wir hatten uns bereits mit den Nachbarn angefreundet, und ein paar Tage lang hatte ich mit Babs bei Steve Rowlands und seinen Kindern, dem Sohn Don und der Tochter Carol, mitgeholfen.
Gestern nun waren meine Eltern in die Türkei abgeflogen, wo mein Vater, der Archäologe ist, mit einer Gruppe Studenten Ausgrabungen durchführen will. Unsere Tante Di hatte sich bereit erklärt, uns während ihrer Abwesenheit ein bisschen zu betreuen. Tante Di war seit eh und je unsere liebste Tante, vermutlich deshalb, weil sie Pferde ebenso gern hatte wie wir. Ihr eigener Hof liegt inmitten einer Wald- und Weidelandschaft, dem Pony Forest, in der es von Wildpferden wimmelt. Und Tante
Weitere Kostenlose Bücher