Reizende Gäste: Roman (German Edition)
Blick im Bett lag, fahl, schwach und geduldig. Schuldgefühle überkamen ihn. Wieso hatte er seine Frau nie nach ihrer Lieblingsmusik gefragt? In dreiunddreißig Ehejahren hatte er sich nie danach erkundigt. Und nun war es zu spät. Er würde es nie mehr erfahren.
Müde rieb er sich die Stirn und sah auf das Gottesdienstprogramm auf seinem Schoß nieder. Dort prangten die Worte: Gedenkgottesdienst und Dankgebet für das Leben von Emily Milicent Favour. Einfache schwarze Beschriftung, schlichte weiße Karte. Er hatte sich allen Versuchen von seiten der Drucker widersetzt, Karten mit so beliebten Dingen wie Silberumrandung oder geprägten Engeln zu verwenden. Dem hätte Emily, dachte er, zugestimmt. Zumindest … hoffte er das.
Richard hatte mehrere Ehejahre dazu gebraucht zu begreifen, daß er seine Frau nicht sehr gut kannte, und etliche mehr, bis ihm kam, daß das nie der Fall sein würde. Anfangs war ihre heitere Entrücktheit etwas gewesen, das ihn zusammen mit dem blassen hübschen Gesicht und der adretten, knabenhaften Figur, die sie so entschlossen verborgen hielt wie ihre innersten Gedanken, angezogen hatte. Je geheimnisvoller sie sich gegeben hatte, desto unwiderstehlicher hatte sie auf Richard gewirkt; dem Hochzeitstag hatte er mit einer Sehnsucht entgegengefiebert, die an Verzweiflung grenzte. Endlich, hatte er gedacht, würden er und Emily einander offenbaren können. Er hatte sich danach verzehrt, nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Gedankenwelt zu erforschen, ihre Person; ihre intimsten Ängste und Träume zu ergründen; ihr lebenslanger Seelengefährte zu werden.
Ihre Hochzeit fand an einem strahlenden, stürmischenTag in einem kleinen Dorf in Kent statt. Emily hatte die ganze Zeit gelassen und heiter gewirkt; Richard war davon ausgegangen, daß sie ihre freudige Erregung, die in ihr bestimmt genauso loderte wie in ihm, einfach besser verbergen konnte – eine Erregung, die beim ihm stärker geworden war, als der Tag voranschritt und ihr Leben zu zweit näher rückte.
Nun schloß er die Augen und erinnerte sich an die ersten prickelnden Sekunden, als sich die Tür hinter dem Träger geschlossen hatte und er zum erstenmal mit seiner Frau in der Hotelsuite in dem Eastbourner Hotel allein war. Er starrte sie an, während sie mit den üblichen glatten, präzisen Bewegungen ihren Hut abnahm. Halb sehnte er sich, daß sie das dumme Ding hinunterwerfen und in seine Arme eilen würde, und halb, daß dieses köstliche, ungewisse Warten nie enden möge. Es hatte den Eindruck gemacht, als würde Emily den Augenblick ihres Zusammenkommens absichtlich verzögern und ihn mit ihrer kühlen, geistesabwesenden Art necken, als würde sie genau wissen, was ihm durch den Kopf ging.
Dann, endlich, hatte sie sich umgewandt und seinen Blick erwidert. Er hatte tief Luft geholt, unsicher, wo er am besten begann; welche seiner angestauten Gedanken er zuerst loswerden sollte. Und sie hatte ihn mit ihren entrückten blauen Augen direkt angesehen und gefragt: »Wann gibt es Abendessen?«
Selbst da hatte er noch geglaubt, sie würde ihn foppen. Er dachte, sie würde absichtlich das Gefühl der Vorfreude verlängern, mit Bedacht ihre Empfindungen zurückhalten, bis sie nicht mehr länger beherrschbar waren, bis sie seinen in einem riesigen Strom entgegenfluten würden. So hatte er geduldig und angesichts ihrer augenscheinlichen Selbstkontrolle ehrfürchtig gewartet. Auf den Strom gewartet; den Einbruch des Wassers; die Tränen und die Hingabe.
Aber dazu war es nie gekommen. Emilys Liebe zu ihm hatte sich nie in mehr als einem bedächtigen Tröpfeln einer nachsichtigen Zuneigung offenbart; auf jede Zärtlichkeit, jede seiner vertraulichen Mitteilungen hatte sie mit dem gleichen lauwarmen Interesse reagiert. Seinen Versuchen, eine kräftige Reaktion in ihr hervorzurufen, war zunächst mit Unverständnis, dann, als er heftiger wurde, mit einem fast ängstlichen Widerstand begegnet worden.
Schließlich hatte er es aufgegeben. Und allmählich, fast unmerklich, hatte sich seine Liebe zu ihr zu wandeln begonnen. Mit den Jahren hatten seine Gefühle aufgehört, wie eine heiße, nasse Flutwelle auf der Oberfläche seiner Seele zu branden, und waren zu etwas Festem, Trockenem und Vernünftigem erstarrt. Auch Richard hatte sich gewandelt. Er hatte gelernt, seine Meinung für sich zu behalten und seine Gedanken leidenschaftslos zu sammeln. Er hatte gelernt zu lächeln, wenn er eigentlich strahlen wollte, mit der Zunge zu
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