O du Mörderische
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»Ich sag’ dir eins, Patricia Anne, ich hab’ es satt, ständig die Sexsklavin für irgendeinen Mann zu spielen.« Mary Alice drückte
energisch die Küchentür hinter sich ins Schloß und steuerte auf den Herd zu. »Ist das frischer Kaffee?«
Ich blickte von meiner Morgenzeitung auf und nickte grinsend. Meine Schwester war fünfundsechzig Jahre alt, einen Meter dreiundachtzig
groß und wog nach eigenem Eingeständnis hundertunddreizehn Kilo. Sie sich als Sexsklavin vorzustellen war ziemlich umwerfend.
»Was gibt’s denn da so einfältig zu grinsen?« fragte sie. »Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.« Sie nahm sich eine Tasse
aus dem Schrank, schenkte sich Kaffee ein und schnappte sich ein Muffin von einem Teller auf der Küchenanrichte. »Was für
eine Sorte ist das?«
»Blaubeere.«
Sie nahm sich gleich noch eins und kam zu dem Tisch am Erkerfenster herüber, wo ich gerade meine Zeitung las und mir eine
zweite Tasse Kaffee genehmigte. »Was tust du da?«
»Ich lese die Bridge-Kolumne von Omar Sharif.«
»Mein Gott, ich liebe diesen Mann. Wenn ich an die Narzissenwiese in ›Doktor Schiwago‹ denke!«
»Ich weiß.« Einen Augenblick lang schob sich der russische Frühling vor das dezemberliche Birmingham, Alabama, und ›Lara’s
Theme‹ erklang. »Wie oft hast du den Film schon gesehen?« fragte ich.
Mary Alice biß in ein Blaubeermuffin. »Vielleicht zwanzigmal. Ich hoffe noch immer, daß sie wieder zusammenkommen.«
|6| »In gewisser Weise sind sie das doch.«
»Sei nicht albern. Er stirbt jedesmal. Platsch. Mitten auf der Straße.« Sie nahm einen weiteren Bissen. »
Seine
Sexsklavin zu sein wäre nicht so schlecht – vorausgesetzt, er spielt nicht die ganze Zeit Bridge.«
Ich faltete die Zeitung zusammen. »Warum legst du nicht deinen Mantel ab? Und was ist das für ein Sexsklavinnen-Gefasel?«
»Ich bleibe nur eine Minute. Und Sexsklavinnen sind wir alle. Du. Ich. Alle Frauen. Wir arbeiten uns kaputt für irgend so
einen Mann.«
Ich hätte sie darauf aufmerksam machen können, daß mein Angetrauter, Fred, bei der Arbeit war, während ich im Bademantel in
der Küche saß und Zeitung las, aber ich wollte den Bogen nicht überspannen.
»Wir bügeln ihre Klamotten, kochen für sie, schrubben ihre Fußböden und tun weiß Gott was, nur um ihnen zu gefallen.«
»Schwesterherz«, sagte ich, »ich denke, eine Sexsklavin wird
sexuell
ausgebeutet.«
»Das kommt noch hinzu«, sagte sie.
Ich beschloß, das Thema nicht weiter zu vertiefen. »Möchtest du noch Kaffee?« fragte ich.
Mary Alice schüttelte den Kopf. »Maus«, sagte sie, meinen alten Spitznamen aus Kindertagen benutzend, »ich zeig’ dir was,
aber du mußt mir versprechen, nicht zu lachen.«
»Okay.«
»Versprichst du’s?«
»Ich versprech’s.«
Sie stand auf und knöpfte ihren Mantel auf, hielt ihn aber weiterhin fest an sich gepreßt. »Schwör’s.«
»Ich hab’ dir gesagt, ich werde nicht lachen.«
Sie zog den Mantel aus, und sämtliche Versprechungen waren vergessen; ich bog mich vor Lachen. Mary Alice stand als Weihnachtsfrau
vor mir, mit kurzem rotem Rock, roten Leggings |7| und einem weißen Oberteil, auf dem bunte Lichter, die augenscheinlich außerhalb ihrer Kontrolle standen, immer wieder die
Worte »Mrs. Santa« aufblinken ließen.
»Ich wußte, daß du lachen würdest«, sagte sie verdrossen. »Ich hab’ auch noch eine passende Perücke dazu.« Sie griff in ihre
Manteltasche, zog etwas daraus hervor, das wie ein toter weißer Pudel aussah, und stülpte es sich auf ihr rosafarbenes kurzes
Haar. »Meinst du, es wird mich jemand erkennen?«
»O Gott«, ächzte ich. »Ich muß mal aufs Klo.«
»Na ja, vermutlich erkennt mich keiner«, rief sie mir hinterher, während ich durch den Flur davonstürzte.
Als ich zurück in die Küche kam, hatte sie ihren Mantel wieder an. Abgesehen von einem gelegentlichen Glucksen hatte ich mich
nun unter Kontrolle. »Kannst du mir bitte mal erklären, was das soll?« fragte ich.
»Bill hat einen Job als Weihnachtsmann bekommen, unten im Rosedale-Einkaufszentrum. Sie wollten ein Paar haben. Angeblich
haben dann die Kinder weniger Angst.« Mary Alice zuckte mit den Achseln. »Siehst du? Ich hab’ dir doch gesagt, daß ich eine
Sexsklavin bin.«
Der zweiundsiebzigjährige Bill Adams war der gegenwärtige »Freund« meiner Schwester. Er hielt sich schon mehrere Monate, wahrscheinlich
weil er sie beim Tanzen rauf- und runterzuschwenken
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