Requiem für eine Sängerin
ihr kam ich mir schön vor, so als hätte ich endlich meinen Platz in der Welt. Und ich fühlte mich gut bei ihr. Die Lust. Das können Sie nicht verstehen; Sie wissen nicht, wie es ist, den Körper einer Frau zu haben, Tag für Tag darin zu leben, Monat für Monat. Aber sie wusste es. Julia wusste es.
Es war alles geheim, sehr aufregend, aber es wurde zu viel. Ich war erst vierzehn. Ich fühlte mich gefangen, eingeengt, und ich hörte immerzu diese innere Stimme. Zuerst ermutigte mich Julia. Sie half mir beim Üben und richtete es sogar so ein, dass ich im Jugendclub auftreten konnte. Sie wurden abgedroschen und trivial, alle – der Club, meine Freundinnen, sogar Julia. Ihre Anerkennung reichte mir nicht mehr. Ich wollte raus da.
Und dann geschah ein Wunder. In der Grafschaft gab es einen Wettbewerb, man musste nur unter fünfzehn sein. Julia überredete mich, daran teilzunehmen. Sie half mir. Damals hatte ich schon professionelle Ausbildung, aber Julia hatte eine Begabung für Inszenierungen, sie wusste, wie sie mir helfen konnte, auf der Bühne präsent zu sein. Ich beschloss, etwas aus Mikado zu singen – ‹The Sun, whose rays› –, eigentlich ambitioniert genug, aber darüber hinaus hatte ich mir ‹Je veux vivre dans ce rêve› in den Kopf gesetzt, Sie wissen schon, aus Gounods Romeo et Juliette . Das ist ziemlich schwer, aber ich habe es mir zugetraut.» Sie machte eine lange Pause, überließ sich der Erinnerung.
«Julia war dagegen, sie meinte, das Programm würde mich überfordern, aber ich wusste, dass ich es schaffen konnte. Mein Leben wurde zu einer einzigen langen Probe, alles andere verblasste. Die Stimme, meine Stimme, wuchs. Ich war sehr nervös, aber am Tag des Wettbewerbs wachte ich auf und wusste, was ich war, was ich werden konnte. Als ich mich einsang, spürte ich, wie meine Kräfte wuchsen. Ich schwebte die ganze Fahrt über – es war der erste richtige Konzertsaal, den ich je betreten habe. Julia brachte mich hin; meine Eltern nahmen sich nicht die Zeit. Julia sagte, ich sei distanziert und geistesabwesend. Sie schrieb es der Nervosität zu, aber da irrte sie sich. In mir war eine erstaunliche Kraft, ein unglaubliches Gefühl. Julia wollte, dass ich einen Durch lauf mit dem Begleitmusiker machte, um ‹locker zu werden› – ich weigerte mich. Ich habe den Mund nicht aufgekriegt; ich wagte es nicht, weil ich fürchtete, dieses unglaubliche Gefühl könnte entweichen.
Als ich endlich aufgerufen wurde – ich war die Vorletzte in meiner Gruppe – schwebte ich regelrecht auf die Bühne, und dank Julias Anleitung hatte ich eine Selbstsicherheit, die mir gar nicht bewusst war. Ich erinnere mich, dass der Pianist mich besorgt ansah; ich aber drehte mich zu ihm um, nickte, sagte: ‹Jetzt› – und ich konnte sehen, dass er meine Kraft spürte. Er gehorchte. Er fing an zu spielen, im richtigen Tempo, und ich fing an zu singen. Seit damals hatte ich nur einen solchen Auftritt. Ich weiß, das hört sich unglaublich an, aber es ist wahr. Ich war erfüllt von der Freude an der Schöpfung – Freiheit, Befreiung. Ich konnte mit meinem Leben anfangen, was ich wollte – und wusste, ich würde es tun. Endlich hatte ich das Sagen.»
Kopfschüttelnd riss Octavia sich aus ihrer Träumerei. «Ich bekam stehende Ovationen. Natürlich habe ich gewonnen. Es war eine ziemliche Sensation. Ich bekam sofort zwei Angebote, führende Musikhochschulen zu besuchen, aber meine Eltern dachten nicht einmal daran; mein Platz war zu Hause. Und da hatte ich das einzige Mal im Leben wirklich ‹Glück›. Man bot mir an, zur Downside zu gehen; die Schule war in der Nähe, sie besaß eine hervorragende musikalische Fakultät, und sie war kostenlos. Noch besser, es bestand die Möglichkeit, mit sechzehn ein Stipendium für die Royal Academy zu bekommen, für Unterricht bei richtig guten Gesangslehrern. Es wurde nicht jedes Jahr vergeben, und eine Bedingung war, dass man an der Schule bleiben, dort die Oberstufe abschließen und aktiv an der musikalischen Arbeit teilnehmen musste. Aber das störte mich nicht; es war eine Frage von zwei Jahren.»
«Was war mit Julia?»
«Julia? Oh, ich weiß nicht. Nach dem Konzert habe ich sie kaum noch gesehen. Sie versuchte, mich zu halten, aber ich hatte die Kraft, verstehen Sie. Sie hatte keine Chance!»
«Und Ihre Eltern?»
«Denen gefiel das Ganze – zumindest meinem Vater eine Weile –, solange es noch neu war. Er war wer. Im Club fragten ihn die Leute nach seiner
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