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Rette mich vor dir

Rette mich vor dir

Titel: Rette mich vor dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahereh H. Mafi
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Leute haben nur Angst«, sagt er schließlich, »weil man Sie noch nicht kennt. Wenn Sie sich nur ein kleines bisschen mehr bemühen würden – wenn Sie nur mal versuchen würden, die anderen näher kennenzulernen –« Er verstummt. Runzelt die Stirn. »Sie sind schon seit zwei Wochen hier, Ms Ferrars, und sogar mit Ihren Zimmergenossinnen sprechen Sie so gut wie nie.«
    »Aber das heißt doch nicht – ich finde sie toll –«
    »Und dennoch sind Sie so verschlossen? Verbringen keine Zeit mit den beiden? Warum?«
    Weil ich noch nie Freundinnen hatte. Weil ich Angst habe, ich könnte etwas falsch machen, etwas Unpassendes sagen, und dann könnten sie mich verabscheuen wie all die anderen Mädchen, die ich kannte. Und ich mag die Zwillinge so gerne, dass die unvermeidliche Zurückweisung umso schlimmer wäre .
    Ich bleibe stumm.
    Castle schüttelt den Kopf. »Am ersten Tag hier sind Sie so gut zurechtgekommen. Zu Brendan waren Sie geradezu nett . Ich weiß nicht, was seither passiert ist. Ich hatte angenommen, dass Sie sich bei uns wohlfühlen würden.«
    Brendan. Der dünne weißblonde Junge, der Elektrizität im Körper hat. Ich erinnere mich an ihn. Er war nett zu mir. »Ich mag Brendan«, sage ich betroffen. »Ist er böse auf mich?«
    » Böse ?« Castle schüttelt den Kopf und lacht laut auf. Meine Frage lässt er unbeantwortet. »Ich verstehe das nicht, Ms Ferrars. Ich habe mich bemüht, geduldig zu sein und Ihnen viel Zeit zu lassen, muss nun aber gestehen, dass ich mich ziemlich wundere. Als Sie hier ankamen, waren Sie ganz anders – fröhlich und offen. Doch binnen einer Woche haben Sie sich verschlossen. Sie suchen nicht einmal Blickkontakt, wenn Sie den Flur entlanggehen. Haben Sie vergessen, was eine Unterhaltung ist? Oder Freundschaft?«
    Ja.
    1 Tag, an dem ich mich eingewöhnte. 1 Tag, um meine Umgebung kennenzulernen. 1 Tag, an dem ich mich über mein neues Leben freute. Und 1 Tag, an dem alle erfuhren, wer ich bin und was ich getan habe.
    Castle spricht nicht über die Mütter, die ihre Kleinen wegzerren, sobald ich auf sie zukomme. Er verliert kein Wort über die feindseligen Blicke und die abweisenden Worte, die ich seit meinem Eintreffen hier erdulden musste. Über die Kinder, die man angewiesen hat, einen weiten Bogen um mich zu machen, und die wenigen älteren Leute, die mich nicht aus den Augen lassen. Ich kann nur erahnen, was sie über mich gehört haben und von wem.
    Juliette.
    Ein Mädchen, das durch Berührung warmblütigen Menschen die Kraft aus dem Leibe saugt, bis sie als gelähmte leblose Kadaver am Boden liegen. Ein Mädchen, das den größten Teil seines Lebens in Kliniken und Jugendstrafanstalten zugebracht hat. Das von seinen eigenen Eltern für geistesgestört erklärt und zu einem Leben in Isolation verdammt wurde, in einem Irrenhaus, in dem nicht einmal Ratten leben wollten.
    Ein Mädchen.
    So machthungrig, dass sie ein Kind tötete. Ein Kleinkind folterte. Einen erwachsenen Mann in die Knie zwang. Ein Mädchen, das nicht einmal genug Anstand besitzt, um sich selbst zu töten.
    All das ist nicht gelogen.
    Deshalb blicke ich Castle nur an, mit Farbflecken auf den Wangen und lautlosen Buchstaben auf den Lippen und Augen, die sich weigern, ihre Geheimnisse preiszugeben.
    Er seufzt.
    Will anscheinend etwas sagen. Versucht zu sprechen, doch dann betrachtet er mein Gesicht und überlegt es sich anders. Er nickt nur knapp, holt tief Luft, tippt auf seine Uhr, sagt »noch drei Stunden bis zur Schlafenszeit« und wendet sich zum Gehen.
    In der Tür bleibt er noch einmal stehen.
    »Ms Ferrars«, sagt er plötzlich leise, ohne sich umzudrehen. »Sie haben sich dafür entschieden, bei uns zu bleiben, mit uns zu kämpfen, ein Mitglied von Omega Point zu werden.« Er hält kurz inne. »Wir brauchen Ihre Unterstützung. Und ich fürchte, die Zeit ist knapp.«
    Ich sehe ihm nach, als er hinausgeht.
    Horche auf das Echo seiner Schritte draußen im Gang. Lehne den Kopf wieder an die Wand. Schließe die Augen. Seine Stimme hallt in meinem Kopf wider, ernsthaft und ruhig.
    Die Zeit ist knapp , hatte er gesagt.
    Als sei Zeit etwas, das begrenzt sei. Das man bei der Geburt in Schalen gereicht bekommt, und wenn man zu viel oder zu schnell davon isst, dann sei sie verloren, verschwendet, aufgegessen, verbraucht.
    Doch Zeit entzieht sich unserem Verständnis. Sie ist endlos, existiert unabhängig von uns; sie kann nicht knapp sein, und wir können sie nicht verlieren oder festhalten. Die Zeit bewegt

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