Richter
1.
R ichter Efisio Surra kam direkt aus Turin nach Montelusa, zwei Wochen, nachdem der erste hierher entsandte Polizeipräfekt des vereinten Italiens, der Florentiner Falconcini, sein Amt angetreten hatte.
Bereits bevor der Richter persönlich in der Stadt eintraf, gelangte die eine oder andere Information über ihn in Umlauf. Wie? Auf welchem Wege? Vielleicht kannte ihn einer der Mitarbeiter, die Falconcini mitgebracht hatte, und der hatte über ihn geredet.
So war beispielsweise zu erfahren, dass er, obwohl von sardischem Vor- und Zunamen, gar kein Sarde war, da nämlich, als die Piemonteser Sardinien gegen Sizilien eingetauscht hatten, sein Urgroßvater väterlicherseits, aus Iglesias stammend, nach Turin gezogen war, dort mit einer Tochter der Stadt eine Familie gegründet und sich seither nicht mehr vom Orte wegbewegt hatte.
Auch war zu erfahren, dass er fünfzig Jahre alt und von eher kleinerer Statur sei, sich stets ordentlich kleide, außerdem sei er verheiratet und habe einen Sohn, einen Advokaten, doch nach Montelusa komme er allein.
Jedenfalls vorerst.
Als Mann sei er ein Einzelgänger und wortkarg.
Als Richter hingegen war von ihm kaum etwas bekannt, da er bislang dem Personal des Ministeriums angehört und keine Gerichtssitzungen gehalten hatte.
Es erwartete ihn eine gewiss nicht einfache Aufgabe: ein Gericht auf gesunde Beine zu stellen, das es nicht mehr gab. Konkret sollte er den alten Gerichtspräsidenten Fallarino ersetzen, den die Anhänger Garibaldis wegen seiner unverbesserlich bourbonenfreundlichen Ansichten in Arrest bringen wollten – außerdem hatte Fallarino den Savoyer nicht als König anerkennen mögen und war demzufolge demissioniert. Er sollte diejenigen Richter und Advokaten wieder in Dienst nehmen, die mit den Bourbonen gearbeitet hatten und willens waren, für den neuen Staat zu wirken, jedoch musste ihre Denkungsart umgekrempelt werden, und schließlich galt es, den sowohl Richtern wie auch Advokaten immer noch restlos unbekannten piemontesischen Kodex zur Anwendung zu bringen.
Natürlich wurde auch im Kreise der Notabeln – darunter durchaus nicht nur Notable, sondern auch etliche reiche Grundbesitzer und Händler – lang und breit über den kommenden Richter beratschlagt.
»Das Wort surra «, so verkündete Don Agatino Smecca in schönstem Sizilianisch, das auch die anderen Herren der Runde pflegten, »bezeichnet bei uns daheim die vintrisca , den Bauchspeck, also, wie Ihr alle wisst, den zartesten und schmackhaftesten Teil des Thunfischs. Vom Zunamen her lässt der Richter schon mal auf Gutes hoffen.«
»Ah, Ihr redet als Mann des Meeres«, entgegnete Don Clemente Sommatino. »Ich aber bin ein bäurischer Landmann,ich sage Euch, surra ist vielleicht ein bitteres und arglistiges Kräutlein, und wenn die Hühner es fressen, legen sie Eier, die schmecken so scheußlich, dass man sie wegwerfen muss. Wenn Ihr mich fragt – der Zuname lässt nichts Gutes vermuten.«
»Redet kein Stroh, der Zuname sagt doch nichts über den Mann aus!«, warf Bonocore ein, seines Zeichens Schwefelhändler. »Entsinnt Ihr Euch nicht mehr jenes Richters namens Benevolo, der so ganz und gar nicht gutmütig war, nie einen Freispruch erließ, schlimmer als ein Henker?«
Schon wahr, dachte Don Clemente, du heißt Bonocore, aber von wegen Gutherzigkeit, zwei deiner Kollegen hast du schon in den Bankrott getrieben!
Doch er sagte nichts.
Kaum war er aus dem von Palermo kommenden Postschiff auf die Mole von Vigàta getreten, da präsentierte sich dem Richter ein Angestellter der Präfektur.
»Eccellenza Falconcini hat Euch eine bequeme Unterkunft in Montelusa besorgt. Ich bringe Euch mit der Kutsche hin. Nehmt schon immer Platz, ich versorge das Gepäck.«
Und tatsächlich war die in der Oberstadt nahe der Kathedrale gelegene Wohnung bequem, luftig und mit Möbeln aus dem 18. Jahrhundert recht gut eingerichtet. Sie gehörte zum Palazzo des Marchese Bontadini, war allerdings vollkommen unabhängig und verfügte über einen eigenen Eingang unfern des Haupttors.
Bevor er sich verabschiedete, überreichte ihm der Angestellteein Billett des Präfekten. Darin stand, in dem Stall direkt der Haustür gegenüber, allerdings auf der anderen Straßenseite, befänden sich Kutsche und Maultier zu seiner Verfügung, dazu ein Kutscher namens Attanasio, ein vertrauenswürdiger Mann.
Der Richter zog sich um und begab sich in den Stall.
»’Gebenster Diener. Bin der Attanasio. Braucht Ihr die Kutsche?«,
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