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Rico, Oskar und die Tieferschatten

Rico, Oskar und die Tieferschatten

Titel: Rico, Oskar und die Tieferschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steinhöfel
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startet automatisch die Bingotrommel in meinem Kopf.
    Ich ärgerte mich, als ich die Treppen runterlief. Hätte Fitzke nicht mein Beweismittel vernichtet, wäre es ein prima Tag gewesen, um Detektiv zu spielen. Der Kreis der Verdächtigen war nämlich sehr klein. Den fünften Stock mit den beiden schicken Dachwohnungen zum Beispiel konnte ich mir zurzeit komplett sparen. Runge-Blawetzkys sind gestern abgezischt in die Ferien, und der Marrak, der neben ihnen wohnt, hat sich gestern und heute noch nicht blickenlassen. Wahrscheinlich hat er wieder bei seiner Freundin übernachtet, die ihm auch die Wäsche macht. Alle paar Wochen sieht man den Marrak nämlich mit einem riesigen Sack voller Klamotten durch die Gegend rennen, raus aus dem Haus und wieder rein, und wieder raus und wieder rein und so weiter. Frau Dahling hat mal gesagt, es sei schrecklich mit den jungen Männern von heute, früher hätten sie zum Ausgehen nur eine Zahnbürste mitgenommen, heute wäre es der halbe Wäscheschrank. Der Marrak war jedenfalls nicht zu Hause. In seinem Briefkasten, unten im Hauseingang, steckte noch die Werbung von gestern. Ich gucke Krimis lieber als Knutschfilme, da fallen einem solche Sachen sozusagen ganz von selbst auf.
    Okay, fünfter Stock abgehakt. Im vierten wohnen Fitzke und der Neue mit der Himmelsrichtung im Namen. Im dritten Stock, gegenüber von Frau Dahling, wohnt der Kiesling. Bei dem hätte ich sowieso erst abends klingeln können, weil der den ganzen Tag auf Maloche ist, als Zahntechniker in einem Labor in Tempelhof.
    Im Stockwerk darunter: Mama und ich, und uns gegenüber die sechs Kesslers, aber die sind auch schon in den Ferien. Aus Kesslers Eigentumswohnung im Zweiten fuhrt eine Treppe in die darunter liegende Wohnung, die gehört ihnen nämlich auch. Herr und Frau Kessler brauchen viel Platz für ihre vielen Kinder.
    Am meisten gefreut hatte ich mich auf die Wohnung im Ersten gegenüber von Kesslers, also unter der von Mama und mir. Da wohnt nämlich Jule mit Berts und Massoud. Die drei sind Studenten. Aber ohne vorzeigbare Nudel fiel der Besuch bei ihnen leider aus. Berts ist ganz in Ordnung. Massoud kann ich nicht leiden, weil Jule in ihn statt in mich verliebt ist. So viel schon mal dazu. Hätte ich bloß mal dort angefangen mit meiner Befragung, oder beim alten Mommsen, unserem Hausverwalter - der wohnt parterre.
    Alles Fehlanzeige.
    Also ab in den Zweiten, nach Hause.
    Als ich in unsere Wohnung kam, stand Mama vor dem goldenen Spiegel mit den vielen kleinen Dickebackenengeln dran im Flur. Sie hatte ihr himmelblaues T-Shirt hochgezogen bis unters Kinn und guckte besorgt ihre Brüste an, wer weiß wie lange schon. Ich konnte ihr nachdenkliches Gesicht im Spiegel sehen.
    Viele Leute, vor allem Männer, gucken Mama auf der Straße nach. Da läuft sie natürlich nicht mit raufgezogenem T-Shirt rum, aber sie sieht eben einfach toll aus. Immer trägt sie superkurze enge Röcke und ein knappes Oberteil mit tiefem Ausschnitt. Dazu hochhackige silberne oder goldene Sandalen mit Riemchen. Die Haare blond und offen und lang und glatt, und außerdem jede Menge tingelige, klingelige Armbänder und Halsketten und Ohrringe. Am liebsten mag ich ihre Fingernägel, die sind sehr lang. Mama klebt jede Woche was Neues drauf, zum Beispiel winzige schillernde Zierfische oder auf jeden Nagel einen einzelnen kleinen Marienkäfer. Sie sagt immer, es gebe einen Haufen Männer, die das mögen, und deswegen sei sie bei ihrer Arbeit so erfolgreich.
    »Irgendwann werden das Hängemöpse«, sagte Mama zu ihrem Spiegelbild und zu mir. »Ich geb ihnen noch zwei, drei Jahre, dann werden sie Opfer der Schwerkraft. Das Leben ist ein verdammter Abreißkalender.«
    Schwerkraft kannte ich nicht, das musste ich nachgucken. Ich gucke immer alles im Lexikon nach, was ich nicht kenne, um schlauer zu werden. Manchmal frage ich auch, Mama oder Frau Dahling oder meinen Lehrer, den Wehmeyer. Was ich rausgefunden habe, schreibe ich dann auf. So in etwa:

    »Und dann?«, sagte ich.
    »Dann gibts neue«, sagte Mama entschlossen. »Hier gehts schließlich um mein Betriebskapital.« Sie seufzte, zog das T-Shirt wieder runter und drehte sich zu mir um. »Wie wars denn in der Schule?«
    »Ging so.«
    Sie sagt nie Förderzentrum, weil sie weiß, wie sehr ich das hasse. Der Wehmeyer versucht dort seit Jahren vergeblich, die Bingokugeln in meinem Kopf zu ordnen. Ich hab mal überlegt, ihm vorzuschlagen, dass er vielleicht erst die Maschine anhalten soll, bevor

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