Rico, Oskar und die Tieferschatten
da so doof zu grinsen gab.
»Weißt du, ich habe gehört«, sagte sie sehr langsam, »dass in einem gewissen Haus in der Dieffe ziemlich bald eine Wohnung frei wird. Oben im Fünften. Mit Dachterrasse und so weiter. Es heißt, die Aussicht über Berlin sei phänomenal.«
Es war wie Zerschmelzen.
»Dann wohnen wir über dem Bühl!«, stieß ich aus.
»Ja. Direkt über einem Polizisten.«
Es war mir immer noch furchtbar peinlich, dass ich mich im Bühl so vertan hatte. Aber wie hätte ich auch wissen können, dass er nicht nur Kriminalkommissar war, sondern auch noch mit den Entführungsfällen betraut? Deshalb hatte er den sechsten roten Kringel auf dem Stadtplan schon machen können, bevor die Öffentlichkeit von Oskars Entführung informiert worden war. Deshalb hatte er mit Oskars dämlichem Vater telefoniert und ihn am Handy beschimpft. Und deshalb hatte der Mann vom Notruf sich von mir verschiffschaukelt gefühlt — ich hatte versucht, ausgerechnet den ermittelnden Kommissar bei ihm anzuzeigen. Echt jetzt, da muss man doch selbst mit einem normal begabten Gehirn erst mal drauf kommen! Gut, vielleicht wäre Miss Jane Marple von allein darauf gekommen, sie ist einfach besser als ich. Aber dafür habe ich auch nicht so einen dicken Hintern, und demnächst kann ich ja den Bühl um Hüfe bitten, falls mal wieder jemand entführt wird.
»Findest du immer noch, dass er eine scharfe Schnitte ist?«, fragte ich Mama vorsichtig.
Vielleicht hätte ich das besser gelassen, denn da war sie plötzlich wieder, diese Mischung aus Müdigkeit und Traurigkeit auf ihrem Gesicht, mit der sie schon letzten Montag nach dem Besuch vom Bühl im Nachdenksessel gesessen hatte. Nur dass diesmal ein ganz kleines Lächeln dabei war. Und obwohl Mama mir zum Abschied anstatt einer Antwort nur einen Kuss auf die Stirnbandage gab, spürte ich ein bisschen Hoffnung und Zuversicht und dergleichen.
So, das wars. Ab jetzt gibt es Ferien für das Ferientagebuch. Ich muss mich erst mal ausruhen, damit die Bingomaschine in Ordnung kommt. Den ganzen letzten Teil habe ich mit der Hand geschrieben, in das Heft, um das ich Mama gebeten habe. Nächste Woche, nach meiner Entlassung, muss ich alles noch in den Computer übertragen, wegen der Rechtschreibung.
Ich muss mich beeilen, gleich gibt's nämlich Abendessen, und wenn Schwester Leonie rauskriegt, dass ich den ganzen Nachmittag heimlich hier herumgekritzelt habe, gibt es Arger. Sie ist toll und sieht klasse aus, wie eine Mischung aus Jule und Fußpflegerin Cindy, auch wenn ich natürlich ihren Busen noch nicht gesehen habe. Also weg mit dem Heft. Eigentlich hab ich jetzt auch alles erzählt, was es zu erzählen gibt.
Alles bis auf eines.
Die Frage aller Fragen nämlich bleibt, warum Fitzke in seiner muffigen Wohnung nicht nur einen großen Wackerstein aufbewahrt hat, sondern warum dort noch hunderte andere Steine herumliegen, kleine und große! Das stellte die Polizei nämlich fest, als sie ihn vernahm. Aber Fitzke wollte es keinem verraten, auch nicht dem Bühl, obwohl sie doch jetzt Nachbarn sind, und auch nicht denen von der Zeitung und vom Fernsehen, obwohl er jetzt ein Held ist, wie Oskar und ich, sozusagen die andere Hälfte. Ausgerechnet Fitzke! Aber nein, er blaffte bloß alle an, es sei ja wohl nicht verboten, Steine in seiner Wohnung aufzubewahren, und damit basta! Vermutlich hat er damit Recht, und ich bin immer noch erleichtert, dass es kein Kinderkopf gewesen ist, den er mitten in der Nacht runter in den Hinterhof gepfeffert und damit den Marrak genau auf der Rübe getroffen hat. Trotzdem glaube ich, dass Fitzke ein Geheimnis hat. Kein normaler Mensch sammelt Steine und wirft mitten in der Nacht den größten von allen zum Fenster raus - und das nicht etwa, um den Marrak oder die beiden kreischenden Jungen zu treffen, die ihm die Nachtruhe versauten, sondern aus anderen Gründen, hat Fitzke ausgesagt! Mann, Mann, Mann!
Vielleicht sollte ich Oskar morgen davon erzählen.
Ja, ganz bestimmt werde ich Oskar morgen davon erzählen.
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