Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rico, Oskar und die Tieferschatten

Rico, Oskar und die Tieferschatten

Titel: Rico, Oskar und die Tieferschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steinhöfel
Vom Netzwerk:
abhauen und die Polizei verständigen. Anders als mir würden sie Oskar ja wohl glauben, wenn er leibhaftig vor ihnen stand. Wir mussten uns bloß beeilen, bevor der Bühl sich an die Pfifferlinge erinnerte.
    Im vernagelten Treppenhaus angekommen, nahmen wir uns bei den Händen. Ratzeduster, schon wieder. Als ich die erste Treppenstufe zum weißen Häuschen auf dem Dach nahm, zerrte Oskar mich heftig zurück. Es war komisch, seine Stimme zu hören, ohne ihn sehen zu können.
    »Bist du verrückt geworden?«, zischte er. »So laufen wir ihm ja direkt in die Arme!«
    »Wir würden ihm in die Arme laufen, wenn wir nach unten gingen«, antwortete ich. »Schließlich kommt er durch den Keller!«
    »Was für einen Keller?«
    »Der, durch den er dich hier raufgebracht hat.«
    Vielleicht lag es an der Dunkelheit, dass Oskar ausnahmsweise so schwer von Begriff war. Vielleicht, überlegte ich, sind Hochbegabte nur im Hellen richtig schlau.
    »Wieso sollte er mich durch den Keller bringen?«, sagte Oskar.
    »Weil er anders nicht ins Hinterhaus gelangt!«
    »Das hast du doch auch geschafft!«
    Langsam wurde es nervend. Während wir hier herumblubberten, rückte womöglich der Bühl an.
    »Ich bin ja auch über den Dachgarten vom Marrak gekommen«, erklärte ich mit erzwungener Geduld. »Durch das weiße Häuschen, erinnerst du dich? Mit den Schlüsseln vom Marrak. Wie sollte der Bühl an die rankommen?«
    »Der Bühl?«, erklang Oskars Stimme verständnislos. »Was hat das denn mit dem Bühl zu tun?«
    Und das war der dritte eiskalte Schauer. Es war auch das dritte Mal, dass das Gefühl zurückkehrte, mit meinen Gedanken irgendwann eine falsche Richtung eingeschlagen zu haben - nur nagte das Gefühl jetzt nicht mehr an mir herum, sondern es schnappte unbarmherzig zu. Ich war ein Vollidiot! Ich war der tiefbegabteste Tiefbegabte, der je ein Förderzentrum von innen gesehen hatte! Mein Fehler hatte nichts mit rechts oder links zu tun, mit vorwärts und rückwärts. Er war allein vorher statt nachher: Der Bühl wohnte gerade mal seit einer Woche in der Dieffe! Die Tieferschatten hatte ich aber schon viel, viel früher gesehen — zum ersten Mal vor ein paar Monaten, als die Entführungen begonnen hatten. Warum und wie sollte der Bühl seine Opfer also hierher gebracht haben?
    »Es ist der Marrak!«, flüsterte ich erschüttert. »Sicherheitsmanagement mit ... irgendwelchen Schwerpunkten!«
    »Darüber bin ich ihm auf die Spur gekommen«, sagte Oskar. »Sophia konnte sich an seinen klimpernden Schlüsselbund erinnern. Und an seinen roten Arbeitsanzug mit dem goldenen Tresor drauf.«
    »Und Sophia selber«, sagte ich. »Wie hast du die überhaupt gefunden?«
    »Hab mich nach ihr durchgefragt, an allen Tempelhofer Grundschulen.«
    »Warum sie? Warum nicht eins von den anderen Kindern?«
    »Sie war das zweite Opfer. Und da waren die Fotos in den Zeitungen. Sophia sah am ehesten aus, als würde sie reden, falls sie etwas wusste.«
    »Der Schlüsselbund und der rote Arbeitsanzug«, wiederholte ich leise. »Der Marrak. Mann, Mann, Mann! Sophia hätte es der Polizei sagen müssen!«
    »Sie hatte Angst!«
    »Die hat sie immer noch. Aber dann hättest wenigstens du es danach der Polizei sagen müssen.«
    Oskar schwieg. Ich sah ihn vor mir, wie er mit Sophia redete. Wie Sophia ihm anvertraute, was sie nur einem anderen Kind anvertrauen konnte. Wie sie aus Glück und Dankbarkeit, endlich mit jemandem reden zu können, Oskar ihren kleinen roten Flieger schenkte. Wie Oskar sich den Flieger ansteckte, ein ebenso glücklicher kleiner Junge mit einem blauen Helm auf dem Kopf, der sonst keine Freunde fand, weil er zu schlau für diese Welt war.
    »Ich hab ihr versprochen, sie nicht zu verraten«, murmelte Oskar. »Meine Mama hat immer gesagt, Versprechen darf man nicht brechen.«
    Ich schluckte. Etwas drückte auf meine Schultern und gegen mein Herz, als hätte die Dunkelheit um uns herum ein Gewicht und eigene Hände bekommen. »Und dann?«, flüsterte ich.
    »Dann hab ich mir aus dem Telefonbuch alle Schließdienste in Berlin rausgeschrieben«, fuhr Oskar fort. »Wochenlang hab ich sie jeden Nachmittag nach der Schule alle einzeln aufgesucht. Zuletzt fand ich den Marrak durch Zufall. Im Telefonbuch steht nur seine Handynummer, nicht die Adresse. Er fuhr bei einer anderen Firma fiir Schließdienste vor, die ich gerade beobachtete. Vielleicht besuchte er dort einen Kumpel. Ich stand auf der anderen Straßenseite, sah ihn aussteigen und wusste, ich

Weitere Kostenlose Bücher