Riesling zum Abschied
hingegeben – und schnell genug, um nicht von der Strömung vor einen Schlepper getrieben zu werden. |31| Im Sommer vermisste sie dieses mitreißende Vergnügen. Sie sollte wirklich mal eine der Frauen besuchen, die sie vor einigen Jahren am Neusiedler See kennengelernt hatte, und dort wieder surfen. Das war mit schmerzhaften Erinnerungen verbunden, deshalb hatte sie es sich bislang verkniffen. War der Laacher See nicht auch ganz schön und in einer guten Stunde zu erreichen?
Als Johanna den Schriftzug »Asbach« an der Hauswand auch ohne Brille lesen konnte, Kontaktlinsen trug sie nur beim Surfen, wurde es Zeit, sich hinters Lenkrad zu klemmen – der Motor sprang sofort an –, und als Erste verließ sie die Fähre. Sie überquerte die Gleise und befand sich auf der Promenade, die um diese Zeit mehr von gehsteigfegenden Hotelportiers und chinesischen Souvenirverkäufern bevölkert wurde als von Touristen. Die würden nicht vor elf Uhr aus den Bussen tappen, danach war kaum noch ein Durchkommen. Was machte dieses Städtchen bei ihnen so beliebt? Eltville war um vieles schöner und sehenswerter, Oestrich romantischer und gediegener – aber vielleicht suchten die Touristen gerade jene Welt der Postkarten, Schlüsselanhänger und Schoppengläser mit geriffeltem Fuß. Und was trieb die Menschen in die enge Drosselgasse?
Sie kam schnell voran, noch war wenig Verkehr, und am Ortsausgang bog sie links in die Rüdesheimer Straße, die sie direkt zur FH führen würde. Die Brentanostraße, wo man ihr ein winziges Büro in der alten Villa zur Verfügung gestellt hatte, fanden nur Eingeweihte. Sie betrat das alte Gebäude und ging hinauf in den ersten Stock. Als sie die Tür aufschloss, kam die Sekretärin aufgeregt aus dem Nebenzimmer.
»Haben Sie schon von dem Mord gehört?« Der Frau stand eine Mischung von Faszination und Abscheu im Gesicht.
Johanna schüttelte abwehrend den Kopf. Sensationsgeschichten waren ihr zuwider. Sie öffnete die Tür, nahm den bekannten Geruch von Mauerwerk und Papier wahr, der dem Raum anhaftete, sodass sie meistens bei offenem |32| Fenster arbeitete oder sich unten in der Küche am Automaten einen Kaffee holte, dessen Aroma den Raum wundersam verwandelte. Sie drehte sich noch einmal um, sie wollte nicht unfreundlich wirken.
Die Sekretärin folgte ihr. »Lesen Sie keine Zeitung, Frau Breitenbach? Wir sind alle zutiefst schockiert und entsetzt! Unglaublich, dass bei uns so etwas passieren kann – bei uns! Und Sie haben wirklich nichts davon gehört?«
Johannas Unwissenheit irritierte die Sekretärin genauso wie ihr Desinteresse an einer so abscheulichen Tat, der sie offenbar gleichgültig gegenüberstand.
»Und wer ist ermordet worden?«, fragte sie, Anteilnahme heuchelnd und überzeugt, wieder ein Bild-Zeitungsdrama aufgetischt zu bekommen.
»Alexandra, Alexandra Lehmann, eine unserer Studentinnen. Sie kannten sie wahrscheinlich. Ein bildhübsches Mädchen, nein, eine junge Frau, sie war kaum zu übersehen, eine auffällige Erscheinung, sehr ungewöhnlich für unsere Studenten: Ziemlich groß, eine gute Figur, und sie sah gut aus, ein feines Gesicht. Blond, meist hochgestecktes Haar, sehr gepflegt, auch von der Kleidung her, ein ausgefeilter Geschmack. Sie zeigte überdurchschnittliche Leistungen, sie hätte das Studium mit Bravour gemeistert und ihren Weg gemacht. So einer jungen Frau stand die Welt offen, ohne Zweifel. Aber dann – ein Mord – eine Katastrophe.«
Johanna brauchte einen Moment, bis sie das Gesagte begriff. »Eine unserer Studentinnen wurde ermordet? Richtig so ...?«
»Wie – richtig so? Mord ist Mord, ob Sie es glauben oder nicht, ja, in ihrer Wohnung erschlagen. Am Montag hat man sie gefunden. Ihre Wirtin war’s, in ihrem Apartment.« Die Sekretärin war noch immer empört.
»Die Wirtin hat sie ermordet?«
»Ach, Sie sind aber schwer von Begriff. Die Vermieterin hat sie gefunden.«
|33| Johanna glaubte noch immer, sich verhört zu haben. Erschlagen? Hier in diesem friedlichen Städtchen hatte sich ein Mord ereignet? Unmöglich. Die Sekretärin musste etwas durcheinanderbringen.
»Vielleicht haben Sie sie ja auch nicht bemerkt, Sie sind ja nicht so oft hier, Frau Breitenbach.«
Hörte Johanna da einen Unterton von Kritik heraus? Wieso sollte sie öfter herkommen, wenn sie lediglich einen Lehrauftrag hatte, der sie zwei Mal pro Woche hierher führte oder zu den unvermeidlichen Konferenzen?
»Sie haben ja nur mit den angehenden Önologen und den
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