Riesling zum Abschied
sie musste zur Treppe, die zur Kommandobrücke mit dem Stand des Rudergängers führte. Von oben konnte sie sich einen Überblick verschaffen.
»Hallo«, rief ein Mann hinter ihr, »Frau Breitenbach! Was machen Sie denn hier? Feierabend?«
Sie erschrak, blieb geduckt stehen, sah sich um – und erkannte den Rufer. Es war Thomas’ Vater. Hastig erklärte sie ihm, wer mit an Bord war.
Achenbach war im Bilde. »Das kriegen wir hin.« Er zwinkerte ihr zu und zog sie die Treppe hinauf zur Brücke. Viel Zeit für Erklärungen blieb ihnen nicht, die Überfahrt dauerte maximal fünfzehn Minuten. Der Rudergänger stellte sich anfangs quer, er nahm den beiden ihre Geschichte nicht ab.
|377| Sie waren bereits in der Mitte des Stroms, das jenseitige Ufer kam näher, als sie endlich den Staatsanwalt ans Telefon bekamen und er dem Rudergänger Johannas Worte bestätigte. Noch immer machte er keine Anstalten, die Maschine zu stoppen, als Johanna ihn wütend anfuhr, ob er nicht zugehört habe.
»Mädchen«, sagte der Mann gemütlich, »überlass das mir. Ich kenne den Strom. Soll ich in der Fahrrinne einen Zusammenstoß riskieren?«
Auf Höhe der Mole kamen sie in ruhiges Wasser und fuhren ins Hafenbecken. Da erst ließ das Vibrieren der Maschine nach, die Fähre verlor an Fahrt und hielt sich im schwachen Neerstrom. Als die Fähre weiter auf Abstand zum Ufer blieb, wurden die ersten Passagiere unruhig, einige Autofahrer stiegen aus, gingen zur Reling, schauten ins Wasser, Nervosität verbreitete sich auf dem Schiff, auch Marquardt verließ seinen Wagen. Als sein Blick zufällig nach oben schweifte und er Johanna erblickte, die ihm zuwinkte, begriff er. Philipp Achenbach rannte die Treppe runter und erreichte Marquardts Lexus genau in dem Moment, als der Professor die Kofferraumklappe öffnen wollte. Mit einem Satz saß er oben drauf und ließ die Beine baumeln.
»Das, Herr Professor«, Johanna war leise hinzugetreten und zeigte auf den Kofferraum, »das heben wir uns für den Staatsanwalt auf.«
Marquardt, der die Arme ausgestreckt hatte, um Philipp vom Wagen zu zerren, ließ sie mutlos fallen.
Johanna hielt ihm Carls Mobiltelefon hin. »Wenn Sie einen Anwalt brauchen – aber mit Vormwald werden Sie sich wohl in Zukunft mehr per Klopfzeichen von Zelle zu Zelle verständigen. Schauen Sie!« Johanna wies zum Ufer.
Zwei Polizeiwagen warteten an der Stelle, wo jemand sie vor wenigen Tagen hatte umbringen wollen.
|378| 21
»Komm runter, Thomas, du bist schon wieder auf Hundert«, rief Regine vom Flur her. »Ob sie nun eine Viertelstunde früher oder später kommen – was soll’s? Wir sind auf jeden Fall pünktlich.« Sie lief seit einer Stunde zwischen ihrem Zimmer, dem Bad und dem großen Spiegel im Flur hin und her und machte sich zurecht.
»Das musst gerade du sagen. Letzte Nacht hast du kaum ein Auge zugemacht, nur weil Pascal heute kommt.« Thomas war auf den Balkon getreten und hielt nach dem Wagen seines Vaters Ausschau, der seine Freundin Verena und den Franzosen mitbringen sollte. Pascal war eigens zu Manuels Konzert angereist und hatte auf dem Weingut übernachtet. Thomas war so nervös wie Manuel, der bereits seit dem frühen Nachmittag im Kloster am Flügel saß und probte. Gestern hatte er den ganzen Tag dort mit dem Klavierstimmer verbracht.
Zwei Tage nach Marquardts Verhaftung und Wallers Geständnis, womit sich Manuels Unschuld endgültig herausgestellt und die Presse ihn als Opfer einer groß angelegten Verschwörung gewürdigt hatte, war »sein« Konzert ausverkauft. Seitdem hatte er in jeder freien Minute geprobt, nur unterbrochen von Fressanfällen, hatte die Semesterferien mit dem Grünschnitt im Weinberg verbracht, seine Gefängnisblässe bei der Weinlese verloren und nachts den versäumten |379| Stoff nachgeholt. Jetzt, zu Beginn des neuen Semesters waren von allen Seiten Entschuldigungen eingetroffen, auch Mitleids- sowie Solidaritätsbezeugungen der Leute, »die schon immer von seiner Unschuld überzeugt gewesen waren«. Manuels Euphorie kannte keine Grenzen, so glücklich war er.
Vor einer Woche war er zu Alexandras Grab gefahren, er hatte niemanden dabeihaben und es allein verarbeiten wollen, und seitdem verkroch er sich. Aber es war keine Depression, er sammelte Kraft für sein Konzert. Jedes Wort war ihm zu viel. Als Thomas ihn gefragt hatte, ob er den Auftritt als eine Art Rache verstünde, hatte sein Freund nur nachdenklich gelächelt.
Jetzt verweilte Thomas’ Blick auf dem
Weitere Kostenlose Bücher