Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr
sollten mich auch in den folgenden zehn Jahren bis zum Erscheinen dieses Buches begleiten. Songs wie Gefahr , Straße oder Streik von seinem letzten Solo-Album Himmel & Hölle , das bereits nach einem Jahr von seiner Plattenfirma aus dem Katalog gestrichen wurde, weil es sich nicht oft genug verkaufte, oder sein vielleicht bewegendstes Lied – Übers Meer . Zusammen mit meiner Tochter entdeckte ich die Kinderplatten der Scherben neu, die es nun auf CD gab, so dass ich endlich auch verstand, wovon Rio und seine Freunde darauf sangen. Und wenn ich heute die alten Scherben-Songs oder die zu Unrecht weitaus weniger beachteten Lieder seiner sechs Solo-Alben höre, fühle ich mich noch immer, wie es Rios Bruder Peter einmal ausdrückte: »zuhause«.
Natürlich trat ich dem Verein Rio Reiser Haus bei – und verließ ihn wenig später wieder, weil ich der Querelen um sein Erbe überdrüssig war. Und doch war ich erleichtert, als mir Elser Maxwell auf einem Sommerfest im nordfriesischen Humptrup 2004 erzählte, dass beide Familien, Rios leibhaftige und die Scherben-Family, einander akzeptiert und Frieden geschlossen hätten. Da spürte ich, dass es an der Zeit war, dieses Buch zu schreiben. Nicht um »eine Kollektivleistung zu einem dubiosen Geniekult« zurechtzubiegen und sich ordentlich selber zu beweihräuchern, was z.B. der erste Scherben-Drummer Wolfgang Seidel der Familie Möbius vorwirft. Und auch nicht, um Rios Leiche zu fleddern, was seinen alten Mitstreitern mitunter vorgeworfen wird. Sondern um seiner zu gedenken, damit seine Lieder auch künftig noch gespielt werden, die bis heute nichts von ihrer Kraft verloren haben und so schön und gut und wahrhaftig sind, dass sie auch heute noch dazu ermutigen, den Kampf nicht aufzugeben. Die noch immer den »längst verloren Geglaubten« Hoffnung spenden und voller Liebe sind wie zu den Zeiten, als Rio noch unter uns weilte und nicht von seiner Wolke aus dem Treiben auf diesem dem Untergang geweihten Planeten zusah.
Nein, es geht nicht darum, Recht zu haben, Rio Reiser nachträglich übern grünen Klee zu loben oder in Frage zu stellen. All die Widersprüche in Rios Leben und Werk sollen nicht übertüncht, sondern als solche wahrgenommen werden. Denn das Leben ist nicht so schwarzweiß, wie es manch einer gerne malt, und für bloße Heldenverehrung taugt Rio ebenso wenig wie sein Leben was für die Klatschspalten hergab. Es geht vielmehr darum, ein Stück Zeitgeschichte aufleben zu lassen – und um die Frage, die Rios Freund Lanrue einst gestellt hat: Wie beerdigt man ein Lebensgefühl?
Er habe sich damit abgefunden, dass er den Tag der Weltrevolution nicht mehr erlebe, hatte Rio Reiser im Jahr vor seinem Tod gesagt, er hoffe aber noch immer, »dass er kommt«. Auch habe er nie aufgehört zu kämpfen, obwohl jede neue Generation ihn als Verräter brandmarke, weil sie »irre viel« in ihn reinprojiziere und so zwangsläufig enttäuscht werde. Denn diese ganzen Erwartungen könne er ja gar nicht erfüllen. Er war es leid, sich ständig rechtfertigen zu müssen, weil er nicht dem Bild entsprach, das manch einer sich von ihm gemacht hatte, und er hatte sich, ähnlich wie einst Bob Dylan, zuletzt immer mehr dem Zugriff der Öffentlichkeit entzogen.
»Ich habe gar keine so großen Lebensansprüche und muss nicht unbedingt’ne Million auf dem Konto haben«, hatte er einst im nordfriesischen Alternativblatt Bowle Abstrakt zu Protokoll gegeben, und 1995 auf n-tv noch einmal klargestellt: »Ich bin nicht Jesus, aber auch kein Yuppie.« Ihm ging es nicht allein darum, »die Mark zu treffen«, wie er es immer nannte, er war aber auch kein Prophet des Mangels, sondern gab das Geld gerne mit vollen Händen aus – am liebsten in Gesellschaft von Freunden und für sie.
Dass die, die ihn liebten und ihm nahe standen, mit seiner Hinterlassenschaft ähnlich uneigennützig verfahren würden, wie er mit seinem Eigentum zu Lebzeiten umgegangen war, mag ein frommer Wunsch gewesen sein. Und vielleicht haben sich ja wirklich alle von den Verheißungen blenden lassen, die Rio Reiser so unnachahmlich in Verse schmiedete, vielleicht war die viel beschworene Einheit von Musik und Leben, auf der ihre Glaubwürdigkeit, ihre street credibility, basierte, doch nur eine Schimäre. Ich habe allerdings meine berechtigten Zweifel, dass das ganze Scherben-Kollektiv nur aus Mitläufern und Duckmäusern, Parasiten und Angsthasen bestand.
In einem der vielen Gespräche zu diesem Buch verglich Lutz
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