Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr
mit seiner Tochter Erika ins Museum, und nahezu jede Woche in die Oper, was so ungewöhnlich allerdings nicht war – auch Rios Tante Tielchen, eine waschechte Proletarierin, die in einer Korkbude schuftete, liebte die Oper und mehr noch das Ballett. Im Gegensatz zu ihr besuchte Erika aber eine »gute Schule«, wurde musisch erzogen, und als sie auch noch ein Klavier erhielt, war »die bucklige Verwandtschaft« neidisch: »Wat die angeben!«
Weil ihr Vater im Zweiten Weltkrieg verschollen war und wohl auch aus Angst, ebenfalls verloren zu gehen, schärfte sie ihren Söhnen von Kindesbeinen an ein, »dass man als Familie zusammenhalten muss«. Und als die Familie Möbius in Traunreut wohnte, wo sich ein riesiges Giftgaslager der Nazis befunden hatte, bevor Siemens dort das neue Deutschland baute, unternahm sie auf Erikas Initiative hin am Wochenende Bildungsfahrten nach Salzburg, Kufstein, Berchtesgaden und Bad Reichenhall, zum Königssee oder in den Chiemgau.
Erika Möbius war ehrgeizig und wollte, »dass ihre Kinder Künstler werden«, verriet Rio 1988 der DDR-Musikzeitschrift melodie und rhythmus ; nicht zuletzt, weil sie in solch unsicheren, sich ständig wandelnden Zeiten etwas Bleibendes hinterlassen wollte. Wenn sie zu Hause war, lief den ganzen Tag lang das Radio. Ob bayerische Volksmusik, Schlager, Beethoven, Rossini oder Emmerich Kálmán – »wenn was gefiel«, erinnerte sich Rio in seiner Autobiografie, »war’s uns egal, ob es von Caterina Valente oder Erika Köth kam.« Aus Verbundenheit mit der Heimat versammelte die Familie sich einmal im Monat, um eine Übertragung des Frontstadtkabaretts Die Insulaner zu hören. »Mehr als die Berliner Insulaner und Mozarts Kleine Nachtmusik «, so Peter Möbius, mochte Rio aber Volksmusiker wie »den Wastl Fanderl und die Fischbachauer Dirndln«.
Ihre Erwartungen konzentrierten sich zunächst auf Peter, den ältesten Sohn, der seinen kleinen Brüdern im Bett Gangster- und Gruselgeschichten erzählte und den Marc Anton aus Shakespeares Julius Caesar rezitierte – dessen Leichenrede konnte Rio noch Jahre später auswendig. Unter Peters Leitung verkleideten sich die drei Möbiusse als Musketiere, Seeräuber oder römische Schwertkämpfer, und mit Hilfe von Tusche und Klebstoff bastelte er aus Kartons kleine Bühnen, auf denen er zu Opernmusik aus dem Radio von Taschenlampen beleuchtete Inszenierungen aufführte. Als 17-Jähriger stellte er einen Festzug für die 800-Jahrfeier von Brühl zusammen, wohin die Familie der Arbeit wegen übergesiedelt war. Anschließend besuchte er die Stuttgarter Kunstakademie und wurde – nach dem Abschluss – Bühnenbildassistent am Göttinger Theater und Komparse im Film Hunde, wollt ihr ewig leben? .
Beim Zweitgeborenen Gert konnte Erika Möbius hingegen »nichts Künstlerisches« erkennen. Eine Psychologin attestierte ihm einen Minderwertigkeitskomplex, und bei der Berufsberatung stellte man laut Rio fest, »dass seine kaufmännische Begabung größer ist als seine handwerkliche, also wurde er auf die Bürofachschule geschickt«.
Ein klassisches Fehlurteil. Gert trat dem CVJM bei, »wurde überzeugter linksradikaler Christ«, lernte Klampfe spielen und bekam schließlich Klavier- und Blockflötenunterricht, weil er als der musikalischste der drei Möbiusse galt. Als wäre das nicht schon Beweis genug, dass in ihm sehr wohl ein Künstler steckte, fing er auch noch an zu malen. Den Besuch der Kunstakademie verweigerten ihm die Eltern aber trotzdem – Gert sollte erst einmal seine Lehre als Versicherungskaufmann bei der Hamburg-Mannheimer beenden.
Keine allzu große Meinung hatte Mutter Möbius anfangs auch von ihrem jüngsten Spross Rio, der damals noch ganz bürgerlich Ralph hieß. Der war in ihren Augen »ein Haarspalter und Rechthaber«, weshalb er zunächst Anwalt werden sollte. Ihre Meinung änderte sie erst, als Bruder Gert ihm ein paar Dur- und Mollakkorde gezeigt hatte und er zwei Lieder nach dem Gehör lernte: Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt und Lili Marleen . Das überzeugte schließlich auch seine Mutter, die ein großer Marlene-Dietrich-Fan war und sogar Sachen über sie wusste, die erst Jahre später allgemein bekannt wurden. »Meine Mutter hat immer gut über die gesprochen«, erzählte Rio 1995 anlässlich der Veröffentlichung seines letzten Albums Himmel & Hölle , und »war wohl schon in der Schule Marlene-Fan« gewesen. »Als ich später das Buch ihrer Tochter gelesen habe, habe ich mich
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