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Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr

Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr

Titel: Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hollow Skai
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heilig, und er wollte ihn nicht durch das Überwechseln ins gegnerische Lager besudeln. Einen alten Baum verpflanzt man schließlich nicht.
    Nicht alle waren zur letzten Gruppenbesprechung erschienen. Der Gitarrist Dirk Schlömer, der Marius del Mestre 1983 ersetzt hatte, war kurz zuvor ausgestiegen. Und der Keyboarder Martin Paul Hartmann, die Managerin Claudia Roth und ihr Freund, der Perkussionist Richard Herten, den man nicht zuletzt ihr zuliebe in die Band integriert hatte, waren nicht eingeladen worden, vermutlich weil man sich eine längere Diskussion ersparen wollte. Nur der harte Kern, die »Ur-Scherben« Lanrue, Kai Sichtermann (Bass) und Funky K. Götzner (Schlagzeug), nahm an dem Treffen in Manne Praekers Villa teil, das von Rio einberufen worden war.
    Was später als »mystische Stunde« bezeichnet wurde, war in Wirklichkeit ein ziemlich gewöhnlicher, unspektakulärer Nachmittag. Die Würfel waren schon vorher gefallen. Man kann nicht duschen, ohne nass zu werden, hatte Lanrue seinen Unwillen, einen Pakt mit der Plattenindustrie zu schließen, begründet. Ein zur Unterzeichnung bereitliegender Plattenvertrag wanderte folgerichtig ohne große Diskussion in den Papierkorb, schon allein deswegen, weil er nicht hoch genug dotiert war. Wenn man sich schon verkaufte, sollte wenigstens etwas dabei herausspringen.
    Die Schulden, die sich nach der so genannten Elser-Tour 1982 angehäuft hatten, wurden laut Lanrue »sehr demokratisch und sehr klar auseinander dividiert« und »proportional verteilt«, so dass jeder ein paar Rechnungen erhielt, die er zu begleichen hatte. Kai Sichtermann holte aus einer nahe gelegenen Kneipe noch drei Flaschen Sekt – für mehr reichte das Geld nicht -, dann umarmte und herzte man sich noch einmal liebevoll und ging auseinander. Die legendäre Deutsch-Rock-Band Ton Steine Scherben hatte sich sangund klanglos aufgelöst, nicht mit einem Knall, sondern mit einem Küsschen.
    Fünfzehn Jahre lang hatten sie es geschafft, unabhängig zu sein und zu bleiben und sich von niemandem etwas diktieren zu lassen. Fünfzehn Jahre lang waren sie nicht nur für Ted Gaier » das Modell eines Lebens« gewesen, »das die Widersprüche und Zwänge des Systems scheinbar ausgehebelt hatte«, verbandelt »mit mehr oder weniger allen linken Bewegungen der siebziger und frühen achtziger Jahre – vom Klassenkampf mit Proletariat als gedachtem revolutionären Subjekt, über die Radikalisierung des Privaten und dem Aufbau einer Kommune, bis zum Umzug aufs Land«. 15 Jahre lang hatten sie sich von niemandem zähmen lassen und, wie Caroline Fetscher 1983 in der Zeitschrift konkret schrieb, »keiner Mode gehorcht, sich nicht funktionalisieren lassen, den Deckel jeder Kiste gesprengt, in die man sie gesteckt hat, keinen Promoter den Rahm ihres Erfolges abschöpfen lassen, nicht zugelassen, dass die Schrumpfkopfjäger der Medien sie abhäuten«. Jetzt aber zogen Rio und Funky wieder nach Kreuzberg, in die Waldemarstraße 66, gegenüber vom Georg-von-Rauch-Haus. Funky wohnte im Hinter-, Rio im Vorderhaus. »Er ging zu Sony, ich ging zum Sozi.«
    Kai Sichtermann hoffte, dass Rio künftig »die Widersprüche zwischen Bühne und Wirklichkeit, zwischen seinen Texten und seiner Person« auflösen könnte oder wenigstens in den Griff bekäme. Dass er Erfolg haben und der Erfolg ihm »Bestätigung und ein wenig innere Ruhe« bringen, kurz: dass die »Diskrepanz zwischen dem Bühnen-Heiligen und dem privaten Dämon« nicht noch größer würde. Doch der Traum von der Freien Republik Fresenhagen, einem anderen Leben im falschen, er war nun aus. Und wer sich erkundigte, was die einzelnen Musiker jetzt machen wollten, dem erklärte Lanrue lakonisch: »Wir werden uns auch in Zukunft nicht langweilen.«
    Die Trauer darüber, dass sich die Scherben aufgelöst hatten, »kam schrittweise«. Funky war sich schon seit längerem wie jemand vorgekommen, der es bis zur Tür geschafft hatte, dem man dann aber bedeutete, doch bitte draußen zu bleiben. Während Manne Praeker und Lokomotive Kreuzberg gerade noch die Kurve gekratzt und auch mal an sich gedacht hatten, indem sie als Spliff leicht verdauliche Chartkost wie Carbonara anrichteten, hatten die Scherben Schiss gehabt, von einer Tour wieder nach Hause zu kommen, weil dort die Banken selbst sonntags anriefen, um Außenstände einzufordern. So manches Mal wäre er gerne sein eigener Roadie gewesen, weil er dann wenigstens mehr als den selbst verordneten Tagessatz von 50 Mark

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