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Ritualmord

Titel: Ritualmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Schlick versunken war. Sie hatte obendrauf gelegen.
    »Sarge? Hören Sie mich?«
    »Ja«, sagte sie, »ich höre Sie.«
    Sie hob die Hand auf, umfasste sie behutsam und ließ sich auf den Schlick im Hafen sinken.
    »Sarge?« 
    »Ja, Dundas. Ja, ich bin da.«
    »Haben Sie was?«
    Sie schluckte, drehte die Hand um, sodass die Finger quer über ihren eigenen lagen. Sie sollte Dundas melden, dass sie etwas gefunden hatte. Aber sie tat es nicht. »Nein«, sagte sie stattdessen. »Nichts. Noch nichts.«
    »Was ist denn da los?«
    »Nichts. Ich sehe mich noch ein bisschen um. Ich sage Bescheid, wenn ich was habe.«
    »Okay.«
    Sie wühlte einen Arm in den schmutzigen Schlamm auf dem Grund und zwang sich, klar zu denken. Als Erstes zog sie die Führungsleine sanft herunter und tastete nach der nächsten Dreimetermarke. Oben würde es so aussehen, als spulte sie sich ganz natürlich ab; es würde aussehen, als schwämme sie über dem Grund entlang. Als sie die Marke erreicht hatte, klemmte sie die Leine zwischen die Knie, um die Spannung zu halten, und legte sich in den Schlick, wie sie es ihrem Team beibrachte, wenn es darum ging, bei einer C0 2 -Uberdosis zu ruhen: das Gesicht nach unten, damit die Maske sich nicht heben konnte, und die Knie leicht in den Schlamm gebohrt. Die Hand hielt sie dicht an ihre Stirn, als betete sie. Der Sprechfunk in ihrem Helm war still; sie hörte nur ein statisches Rauschen. Jetzt, nachdem sie das Zielobjekt gefunden hatte, konnte sie sich Zeit lassen. Sie stöpselte das Mikro an ihrer Maske ab, schloss für eine Sekunde die Augen und kontrollierte ihre Balance. Sie konzentrierte sich auf einen roten Fleck vor ihrem geistigen Auge, beobachtete ihn und wartete darauf, dass er zu tanzen anfing. Aber er tat es nicht. Blieb starr. Sie hielt sich sehr, sehr ruhig und wartete wie immer darauf, dass etwas zu ihr kam.
    »Mum?«, flüsterte sie und verabscheute den hoffnungsvollen, zischenden Klang ihrer Stimme im Helm. »Mum?«
    Sie wartete. Nichts. Wie immer. Sie konzentrierte sich angestrengt und drückte dabei die Knochen der Hand leicht zu- 
    sammen, bis dieses fremde Stück Fleisch sich halb vertraut anfühlte.
    »Mum?«
    Etwas drang in ihre Augen. Es brannte. Sie öffnete sie, aber da war nichts – nur das übliche stickige Schwarz der Maske, das verschwommene bräunliche Licht auf dem Schlick, der vor der Sichtscheibe schwebte, und das alles umhüllende Geräusch ihres eigenen Atems. Sie kämpfte mit den Tränen, und am liebsten hätte sie es laut gesagt: Mum, bitte hilf. Ich habe dich letzte Nacht gesehen. Ich habe dich gesehen. Und ich weiß, du willst mir etwas sagen – ich kann dich nur nicht richtig hören. Bitte sag mir, was es ist.
    »Mum?«, flüsterte sie und schämte sich: »Mummy?«
    Ihre eigene Stimme kam zurück, und das Echo hallte in ihrem Kopf, aber jetzt klang es nicht wie Mummy, sondern wie Idiot, du Idiot. Schwer atmend legte sie den Kopf zurück und wehrte sich gegen die aufsteigenden Tränen. Was erwartete sie? Warum kam sie zum Weinen immer hierher, unter Wasser? Es gab keinen schlechteren Ort dafür – zum Weinen unter einer Maske, die sie nicht abnehmen konnte wie ein Sporttaucher. Vielleicht war es naheliegend, dass sie sich Mum an einem solchen Ort näher fühlte, aber da musste mehr dahinterstecken. So weit sie zurückdenken konnte, war das Wasser immer eine Umgebung gewesen, in der sie sich konzentrieren konnte. Wo eine Art Friede heraufschwebte – als könnte sie hier unten Kanäle öffnen, die oben verschlossen blieben.
    Sie wartete ein paar Minuten, bis die Tränen irgendwohin verschwunden waren, wo sie ihr nichts anhaben konnten, und sie sicher war, dass sie sich nicht lächerlich machen würde, wenn sie wieder auftauchte. Sie seufzte und hob die abgetrennte Hand hoch. Sie musste sie so dicht an die Maske halten, dass sie die Plexiglassichtscheibe fast berührte; sonst konnte man nichts erkennen. Als sie die Hand aus dieser Nähe betrachtete, begriff sie, was ihr außerdem Sorgen machte. 

    Sie stöpselte das Mikrokabel wieder ein. »Dundas? Sind Sie da?«
    »Was gibt’s?«
    Sie drehte die Hand weniger als einen Zentimeter vor der Sichtscheibe hin und her und betrachtete die graue Haut und das abgerissene Ende. Ein alter Mann hatte sie gesehen, nur eine Sekunde lang. Er war mit seiner kleinen Enkelin unterwegs gewesen, die ihre neuen pinkfarbenen Gummistiefel im Regen hatte ausprobieren wollen. Sie hatten sich zusammen unter den Schirm geduckt und

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