Röslein stach - Die Arena-Thriller
reagiert.
Antonia jedoch fühlte sich wie ein Puzzle, bei dem die Hälfte der Teile fehlte. Nicht einmal ein Foto hatte sie von ihrem Erzeuger. Vermutlich hatte sie dessen Haar- und Augenfarbe geerbt, denn in der Familie ihrer Mutter hatte niemand rötliches Haar und blaugrüne Augen. Der Rest aber war wie eine Leinwand, auf die man nach Belieben Bilder malen konnte.
Vor fünf Jahren hatten sich Antonias Mutter Doris und Ralph Reuter kennengelernt und kurz darauf waren Antonia und ihre Mutter zu ihm aufs Dorf gezogen, wo er bei einer Reparaturwerkstatt für Landmaschinen arbeitete. Antonia, die bis dahin ihre Kindheit in der Südstadt von Hannover verbracht hatte, hatte sich mit allen Mitteln dagegen gewehrt. Sie wollte nicht in eine andere Schule, wollte nicht von ihren Freundinnen getrennt werden und schon gar nicht auf dieses langweilige Dorf ziehen. Und am allerwenigsten wollte sie unter einem Dach mit Ralph leben. Sogar in einen Hungerstreik war sie getreten, den sie immerhin vier Tage durchgehalten hatte. Vergeblich.
»Du gewöhnst dich schon an die neue Umgebung, es ist doch schön da draußen, kein Lärm, kein Gestank. Wir werden einen Garten haben, du wirst neue Freunde finden und Ralph hat dich wirklich gern. Gib ihm wenigstens eine Chance«, hatte ihre Mutter sie gebeten. Bald nach dem Umzug hatten Doris und Ralph geheiratet, was Antonia mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis genommen hatte. Ralph hatte sogar vorgeschlagen, sie zu adoptieren, damit alle in der Familie einen gemeinsamen Namen tragen würden, aber dagegen hatte Antonia ebenfalls vehement protestiert. Denn wie sollte ihr richtiger Vater sie jemals finden, wenn sie ihren Nachnamen wechselte? Wenigstens in dieser Angelegenheit wurde ihr Protest gehört: Ralph verzichtete auf die Adoption und Antonia durfte ihren Nachnamen Bernward behalten, während ihre Mutter nun Doris Reuter hieß.
Antonia hatte Ralph von Anfang an nicht leiden können und sie war sicher, dass es Ralph umgekehrt genauso ging. Ihre gegenseitige Abneigung war vermutlich das Einzige, das sie gemeinsam hatten, auch wenn Ralph gegenüber Antonias Mutter so tat, als läge ihm Antonias Wohlergehen am Herzen. Es war nicht so, dass Ralph Antonia schlecht behandelte, sie konnte ihm keine konkreten Untaten vorwerfen. Aber Antonia hatte feine Antennen, sie spürte, dass sie für ihn nur das lästige Anhängsel ihrer Mutter war. Also blieb Antonia am Abend meist in ihrem Zimmer, las, chattete oder sah fern. Den Fernseher hatte ihr Ralph geschenkt. Es war ein altes Röhrengerät, das er wahrscheinlich für zehn Euro gebraucht gekauft hatte. Antonia wusste: Das war seine Art, sich seine Stieftochter nach Feierabend vom Hals zu halten. Knickerig war er zu allem hin auch noch. Das einzig brauchbare »Geschenk«, das sie je von ihm erhalten hatte, war sein abgelegtes Fotohandy gewesen, nachdem er seinen Vertrag verlängert und ein neues bekommen hatte. Mit einer leisen Wehmut dachte Antonia an die Zeit zurück, als es noch keinen Ralph gegeben und sie die Abende mit ihrer Mutter auf dem großen Sofa verbracht hatte; lesend oder fernsehend, aber jedenfalls zusammen. Doch ihre Beziehung zu ihrer Mutter war seit Ralph deutlich distanzierter geworden. Selbst wenn Ralph auf Reisen war, blieb Antonia in ihrem Zimmer. Wie ein Wellensittich, der sich an seinen Käfig gewöhnt hatte und mit der offenen Tür nichts anzufangen wusste.
Manchmal hörte Antonia spät am Abend von unten herauf laute Stimmen. Sie stritten. Dann hoffte Antonia jedes Mal inständig, dass die zwei sich trennen und sie und ihre Mutter wieder in die Stadt ziehen würden. Vor etwa einem Jahr schienen sich ihre Hoffnungen zu erfüllen, als ihre Mutter am Tag nach einem solchen Streit ihr bläulich verfärbtes Auge unter einer großen Sonnenbrille zu verstecken versuchte. Damals war Antonia überzeugt gewesen, dass ihre Koffer gepackt sein würden, wenn sie aus der Schule zurückkam. Doch nichts dergleichen geschah. So oft und heftig sich Ralph und ihre Mutter auch stritten, schienen sich die beiden doch immer wieder zu versöhnen. Worum sich die Streitereien drehten, wusste Antonia nicht. Sie hatte sich angewöhnt, ihre Kopfhörer aufzusetzen und Musik zu hören, wenn es unten mal wieder rundging. Sie fragte auch nicht nach. Bestimmt stritten sie ihretwegen, denn oft genug nörgelte Ralph, sie sei egoistisch und verzogen, und dann fing ihre Mutter jedes Mal an, sie zu verteidigen, während Antonia dachte: Soll er doch von mir
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