Rollende Steine
den Kopf und schloß die Augen.
»Ja, Frau Anstand?« fragte Susanne, als Frau Anstand gerade »Susanne«
sagen wollte.
Die Rektorin schauderte. Auch davon hatten die Lehrerinnen gespro-
chen. Manchmal beantwortete Susanne Fragen, bevor man sie stellte…
Sie faßte sich wieder.
»Du sitzt noch immer vor mir, nicht wahr?«
»Natürlich, Frau Anstand.«
Lächerlich.
Eine innere Stimme flüsterte in der Internatsleiterin. Sie wird nicht in dem Sinne unsichtbar, nur unauffäl ig. Sie…
Frau Anstand konzentrierte sich. Ihr fiel die Mitteilung ein, an den Ak-
tendeckel geheftet und von ihr selbst verfaßt.
Sie las:
Du redest mit Susanne Sto Helit. Vergiß das nicht.
»Susanne?« fragte sie behutsam.
»Ja, Frau Anstand?«
Wenn die Rektorin ihre ganze geistige Kraft für die visuel e Wahrneh-
mung nutzte, konnte sie Susanne auf dem Stuhl sehen. Wenn sie sich
wirklich bemühte, war sie auch in der Lage, die Stimme des Mädchens zu
hören. Es kam in erster Linie darauf an, gegen die Überzeugung anzu-
kämpfen, allein zu sein.
»Frau Lästig und Frau Greggs haben sich beschwert«, sagte sie.
»Ich bin immer in der Klasse, Frau Anstand.«
»Das glaube ich gern. Frau Verräter und Frau Stempel bestätigen, daß
sie dich die ganze Zeit über sehen.« Darüber hatte es im Lehrerzimmer
eine Kontroverse gegeben. »Es liegt daran, daß dir Logik und Mathema-
tik gefallen, nicht wahr? Im Gegensatz zu Sprache und Geschichte.«
Frau Anstand konzentrierte sich erneut. Das Mädchen konnte den
Raum unmöglich verlassen haben. Wenn sie die Ohren spitzte und ganz
aufmerksam lauschte… dann glaubte sie fast, eine Stimme zu hören, die
flüsterte: »Ich weiß nicht, Frau Anstand.«
»Susanne, es ist sehr ärgerlich, wenn du…«
Frau Anstand zögerte. Sie sah sich im Arbeitszimmer um und blickte
dann auf die Mitteilung an der Akte. Mit gerunzelter Stirn las sie die
Worte, zerknüllte den Zettel und warf ihn in den Papierkorb. Anschlie-
ßend nahm sie einen Stift, starrte einige Sekunden lang ins Leere und
widmete sich dann wieder der Buchführung.
Nachdem Susanne eine Zeitlang höflich gewartet hatte, stand sie auf
und verließ das Zimmer so leise wie möglich.
Gewisse Dinge haben vor anderen Dingen zu geschehen. Götter spielen
mit dem Schicksal der Sterblichen. Doch zuerst müssen sie die Figuren
aufs Spielbrett stel en und nach den Würfeln suchen.
In Llamedos, einem kleinen Land in den Bergen, regnete es ständig.
Regen war der wichtigste Exportartikel. Es gab dort sogar Regenminen.
Der Barde namens Imp saß unter einem immergrünen Baum; aus rei-
ner Angewohnheit – er gab sich keineswegs der Hoffnung hin, daß ihn
die Pflanze vor dem Regen schützte. Wasser rann durch das Gewirr aus
dornigen Blättern und bildete kleine Bäche auf den Zweigen. Eigentlich
fungierte der Baum als Regenkonzentrator. Ab und zu klatschten Regen-
klumpen auf Imps Kopf.
Er war achtzehn, außerordentlich talentiert und derzeit unzufrieden
mit seinem Leben.
Er drehte die Harfe – seine herrliche, neue Harfe – und beobachtete
den Regen. Tränen rannen ihm über die Wangen und vereinten sich mit
der al gegenwärtigen Nässe.
Götter mögen solche Leute.
Es heißt, wenn die Götter jemanden vernichten wollen, schicken sie
ihm zunächst Wahnsinn. Das stimmt nicht ganz. Wenn die Götter wirk-
lich jemanden vernichten wol en, dann geben sie dem Betreffenden das
Äquivalent einer Sprengstoffstange, auf der »Dynamit« geschrieben steht
und deren Zündschnur brennt. Das ist viel interessanter und geht schnel-
ler.
Susanne schlurfte durch den nach Desinfektionsmittel riechenden Flur.
Frau Anstands Gedanken und Überlegungen kümmerten sie kaum. Ei-
gentlich machte sie sich nie Sorgen über das, was andere dachten. Sie
wußte nicht, warum die Leute sie einfach vergaßen, wenn sie es wollte;
nachher waren die Betreffenden immer zu verlegen, um sie darauf anzu-
sprechen.
Gelegentlich fiel es den Lehrerinnen schwer, sie zu sehen. Daran gab
es nach Susannes Meinung nichts auszusetzen. Oft nahm sie ein interes-
santes Buch mit in die Klasse und las es in al er Ruhe, während den an-
deren Schülerinnen »Die wichtigsten Exportartikel von Klatsch« zustie-
ßen.
Es war zweifel os eine wunderschöne Harfe. Nur sehr selten leistet ein
Handwerker so gute Arbeit, daß man sich keine Verbesserungen vorstel-
len kann. Sie war nicht verziert – das wäre ein Sakrileg gewesen.
Außerdem war es ein
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