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Rom: Band 1

Rom: Band 1

Titel: Rom: Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emil Zola
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verwirklichen. Pierre mußte zuletzt lächeln. In dem Bedürfnis, dem furchtbaren Alpdruck dieses Tages zu entgehen, fand er an diesem schönen, tröstlichen Märchen Gefallen. Sie sprachen bis spät in die Nacht darüber und setzten auch an den folgenden Tagen dieses Thema fort, das dem alten Priester so lieb war. Er breitete sich fortwährend über neue Einzelheiten aus und sprach von der nahen Herrschaft der Liebe und Gerechtigkeit mit der rührenden Ueberzeugung eines guten Menschen, der weiß, daß er nicht sterben wird, ohne Gott noch auf Erden gesehen zu haben.
    Und da fand in Pierre eine neue Umwälzung statt. Die Ausübung der Wohlthätigkeit in diesem armen Stadtteil hatte ihn unendlich weich gestimmt; sein Herz ward durch den Anblick dieses Elends, an dessen Heilung er verzweifelte, schwach, erschüttert, zerrissen. Durch dieses Wiedererwachen seiner Empfindsamkeit wurde seine Vernunft manchmal in den Hintergrund gedrängt; er kehrte zu der Kindheit zurück, zu jenem Bedürfnis nach alles umfassender Zärtlichkeit, das seine Mutter ihm ins Herz gepflanzt. Er träumte von chimärischen Linderungen, erwartete Hilfe von unbekannten Mächten. Seine Furcht, sein Abscheu vor der Brutalität der Thatsachen steigerte noch seinen Wunsch nach einer Rettung durch die Liebe. Es war hohe Zeit, die unvermeidliche, furchtbare Katastrophe, den Bruderkrieg der Klassen, zu beschwören, der die alte Welt wegraffen würde, die dazu bestimmt war, unter der angehäuften Last ihrer Verbrechen zu verschwinden. Fest überzeugt, daß die Ungerechtigkeit ihren Gipfel erreicht habe, daß bald die rächende Stunde schlagen werde, da die Armen die Reichen zur Teilung zwingen wurden, gefiel er sich fortan in dem Traum von einer friedlichen Lösung, vom Bruderkuß, den alle Menschen mit einander tauschen würden, von der Rückkehr zu der reinen Moral des Evangeliums, so wie Jesus es predigte. Anfangs quälten ihn Zweifel. War diese Verjüngung des antiken Katholizismus möglich, würde man ihn zur Jugend, zur Reinheit des ursprünglichen Christentums zurückfuhren können? Er begann Studien zu machen, zu lesen, Erkundigungen einzuziehen und erhitzte sich immer mehr und mehr für diese große Frage des katholischen Sozialismus, die seit einigen Jahren so vielen Lärm machte. In seinem erschauernden Mitleid mit den Unglücklichen und da er auf das Wunder der Brüderlichkeit vorbereitet war, verloren sich nach und nach die Zweifel seiner Intelligenz, bildete er sich ein, daß Christus ein zweitesmal kommen müsse, um die leidende Menschheit loszukaufen. Zuletzt formulirte sich das alles in seinem Geiste zu der festen Gewißheit, daß der Katholizismus, der geläuterte, auf seinen Ursprung zurückgeführte Katholizismus der einzige Pakt, die letzte Macht sein könne, welche die gegenwärtige Gesellschaft retten würde, indem sie die drohende, blutige Krise beschwor. Als er vor zwei Jahren Lourdes voll Empörung über jene niedrige Abgötterei verlassen hatte, als sein Glaube für immer erloschen, aber sein Herz doch von der ewigen Sehnsucht nach dem Göttlichen, das alle Kreaturen quält, beunruhigt war, da hatte sich aus seiner tiefsten Seele ein Schrei losgerungen: »Eine neue Religion! Eine neue Religion!« Und heute glaubte er diese neue Religion, besser gesagt, diese erneute Religion gefunden zu haben. Ihr Ziel war die soziale Rettung; zum Glücke der Menschheit sollte sie die einzige, noch aufrecht stehende moralische Autorität, die weitgreifende Organisation des wunderbarsten Werkzeuges verwenden, das jemals zum Regieren der Völker geschmiedet ward.
    Während Pierre diese langsame Entwicklungsperiode durchmachte, gewannen außer dem Abbé Rose noch zwei Männer großen Einfluß auf ihn. Ein gutes Werk hatte ihn mit Monseigneur Bergerot, einem Bischof, bekannt gemacht, den der Papst zum Lohn für ein ganzes Leben bewunderungswürdiger Wohlthätigkeit eben zum Kardinal erhoben hatte, trotzdem seine Umgebung sich heimlich widersetzte; denn sie witterte in dem französischen Prälaten, der seine Diözese wie ein Vater regierte, einen Freigeist. Durch den Verkehr mit diesem Apostel, diesem Seelenhirten, ward Pierre noch mehr entflammt; das war einer jener einfachen und guten Führer, wie er sie der künftigen Gemeinde wünschte. Aber als er in den Versammlungen der katholischen Arbeiter dem Vicomte Philibert de la Choue begegnete, war dies für sein Apostelamt noch entscheidender. Der Vicomte war ein schöner Mann mit militärischen

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