Rom: Band 1
Manieren und einem langen, edlen Gesicht, das aber durch eine zerdrückte und zu kleine Nase entstellt war, was den schließlichen Echec einer schlecht gefestigten Natur anzudeuten schien. Er war einer der thätigsten Agitatoren des französischen katholischen Sozialismus und besaß große Güter, ein großes Vermögen. Freilich ging das Gerücht, daß er sich durch mißlungene landwirtschaftliche Unternehmungen bereits um beinahe die Hälfte desselben gebracht habe. In seinem Departement hatte er Musterwirtschaften eingerichtet, auf denen er seine Ideen bezüglich des christlichen Sozialismus in Anwendung brachte. Aber der Erfolg schien ihn auch dort nicht zu ermutigen. Es hatte ihm jedoch zu einem Abgeordnetenmandat verholfen. Er sprach oft in der Kammer und setzte das Programm seiner Partei in langen, tönenden Reden aus einander. Auch im übrigen war er von unermüdlichem Eifer, geleitete Pilgerzüge nach Rom, führte den Vorsitz bei Versammlungen, hielt Konferenzen und gab sich vor allem mit dem Volk ab. Nur die Eroberung des Volkes, sagte er zu seinen Vertrauten, könne den Sieg der Kirche sichern. Auf diese Weise übte er eine große Wirkung auf Pierre aus; dieser bewunderte naiv an ihm alle die Eigenschaften, deren er selbst entbehrte, den Organisationsgeist, den streitbaren, etwas unruhigen Willen, der einzig und allein darauf gerichtet war, die christliche Gesellschaft in Frankreich umzuschaffen. Der junge Priester lernte durch diesen Verkehr sehr viel, aber er blieb doch der Empfindsame, der Träumer, der seinen Flug geradenwegs nach der künftigen Wohnung des allgemeinen Glückes nahm, ohne der politischen Notwendigkeiten zu achten. Der Vicomte hingegen beabsichtigte, die Zerstörung der liberalen Idee von 1789 zu vollenden, indem er die Enttäuschung und den Zorn der Demokratie für die Rückkehr in die Vergangenheit ausnützte.
Pierre verlebte einige zauberhafte Monate. Noch niemals hatte ein Neophyt so gänzlich für das Glück anderer gelebt wie er. Er war ganz Liebe, er brannte für sein Apostelamt. Seine Besuche bei dem unglücklichen Volke, bei den Männern, die keine Arbeit fanden, den Müttern, den Kindern, die kein Brot hatten, flößten ihm die jeden Tag wachsende Gewißheit ein, daß eine neue Religion entstehen müsse, um der Ungerechtigkeit ein Ende zu machen, derentwegen die empörte Welt eines gewaltsamen Todes sterben müßte. Und bei diesem Eingreifen des Göttlichen, dieser Wiedergeburt des ursprünglichen Christentums wollte er mitarbeiten. Alle Kräfte seines Wesens beschloß er einzusetzen, um sie zu beschleunigen. Sein katholischer Glaube blieb tot; er glaubte nicht mehr an Dogmen, Mysterien, Wunder. Aber eine Hoffnung genügte ihm. Es war die Hoffnung, daß die Kirche noch Gutes thun könne, indem sie die unaufhaltsame, moderne, demokratische Bewegung in die Hand nahm, um von den Nationen die drohende soziale Katastrophe abzuhalten. Seit er sich die Mission gestellt hatte, dem Herzen des verhungerten, murrenden Volkes der Vorstädte das Evangelium wiederzugeben, war Ruhe in seine Seele eingezogen. Thätig, wie er war, litt er nun weniger unter dem furchtbaren Gefühl des Nichts, das er von Lourdes mitgebracht hatte, und da er nicht mehr in sich forschte, verzehrte ihn die Qual der Ungewißheit nicht mehr. Mit der Heiterkeit, welche die einfache Pflichterfüllung mit sich bringt, fuhr er fort, die Messe zu lesen. Zuletzt kam er zu dem Schlusse, daß dieses Mysterium, daß überhaupt alle Mysterien und alle Dogmen eigentlich nur Symbole seien, kirchliche Gebräuche, die für die Kindheit der Menschheit unerläßlich waren. Wenn die Menschheit erwachsen, geläutert, gebildet, wenn sie im stande sein würde, den blendenden Glanz der nackten Wahrheit zu ertragen, dann konnte man sich ihrer wieder entledigen. Und eines Morgens setzte sich Pierre, in seinem Drang, sich nützlich zu machen, in dem leidenschaftlichen Verlangen, seine Ueberzeugung laut in die Welt hinaus zu schreien, an den Tisch und schrieb ein Buch. Das war ganz natürlich gekommen. Dieses Buch war ein Aufschrei seines Herzens; jedwede literarische Absicht stand ihm fern. Der Titel des Buches war eines Nachts, als er nicht schlafen konnte, jählings aus dem Dunkel aufgeflammt: » Das neue Rom «. Und damit war alles gesagt. War es denn nicht Rom, das ewige und heilige Rom, von wo die Erlösung der Völker kommen mußte? Die einzige, noch bestehende Autorität befand sich dort; die Verjüngung konnte nur auf der heiligen
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