Rom: Band 1
erste Jahr gewesen, das er in seinem kleinen Hause in Neuilly verlebte! Thüren und Fenster waren immer verschlossen, er hatte sich eingegraben wie ein wundes Tier, das im Todeskampfe liegt. Mit erstorbener Seele, mit blutendem Herzen war er von Lourdes zurückgekehrt; nichts war in ihm übrig geblieben als Asche. Schweigen und Nacht hatten sich über die Ruinen seiner Liebe und seines Glaubens herabgesenkt. Tag auf Tag verstrich, ohne daß er den Pulsschlag seiner Adern hörte, ohne daß sich ein Licht erhob, um das Dunkel seiner Verlassenheit zu erhellen. Er lebte maschinenmäßig dahin und wartete auf die Wiederkehr seines Mutes, um das Leben im Namen der erhabenen Vernunft, der zu liebe er alles geopfert, wieder aufzunehmen. Warum war er nicht widerstandsfähiger und kräftiger, warum paßte er nicht sein Leben ruhig seinen neuen Ueberzeugungen an? Warum gab er sich, da er, einer einzigen Liebe treu und vom Meineid angeekelt, den priesterlichen Stand nicht verlassen wollte, nicht einer Wissenschaft hin, die Priestern gestattet ist, der Astronomie oder der Archäologie. Aber etwas regte sich in ihm, zweifellos das Blut seiner Mutter – eine ungeheure, rasende Zärtlichkeit, die noch niemals gestillt worden war, die verzweifelt war, weil sie niemals Befriedigung finden konnte. Das war der beständige Schmerz seiner Einsamkeit, die offene Wunde in seiner Seele, trotz der hohen Selbstachtung, die seine wieder eroberte Vernunft ihm schenkte.
Da, an einem Herbstabend, während eines traurigen Regens, führte ihn der Zufall mit einem alten Priester, dem Abbé Rosé, Vikar an der Kirche Sainte-Marguerite in der Vorstadt Saint-Antoine, zusammen. Er suchte ihn in seiner Wohnung in der Rue de Charonne auf; es war ein finsteres, aus drei Zimmern bestehendes Erdgeschoß, das er in ein Asyl für verlassene kleine Kinder, die er in den benachbarten Straßen auflas, verwandelt hatte. Von diesem Augenblick an änderte sich Pierres Leben; ein neues, mächtiges Interesse hatte ihn ergriffen, und er wurde allmälich der leidenschaftlich-eifrige Gehilfe des alten Priesters. Der Weg von Neuilly bis in die Rue de Charonne war weit. Anfangs ging er bloß zweimal wöchentlich hin, dann alle Tage, gleich am frühen Morgen, und kehrte erst spät abends in seine Wohnung zurück. Da die drei Zimmer nicht mehr genügten, mietete er den ganzen ersten Stock, behielt ein Zimmer für sich und blieb dann oft über Nacht dort. Alle seine kleinen Renten gingen für diese armen Kinder auf; der alte Priester, entzückt und von dem Opfermut dieses vom Himmel gefallenen jungen Helfers bis zu Thränen gerührt, umarmte ihn weinend und nannte ihn ein Kind Gottes.
Nun lernte Pierre das Elend, das schändliche und abscheuliche Elend kennen. Zwei Jahre lebte er an seiner Seite mit ihm zusammen. Er fing mit den kleinen Wesen an, die er selbst auf dem Pflaster auflas oder mitleidige Nachbarn ihm zuführten; denn jetzt war das Asyl im ganzen Stadtteil bekannt. Es waren kleine Jungen und Mädchen, die allerkleinsten, die auf die Straße gerieten, während die Eltern arbeiteten, tranken oder im Sterben lagen. Oft war der Vater verschwunden, die Mutter gab sich preis, Trunkenheit und Ausschweifung waren zugleich mit der Arbeitseinstellung in die Wohnung eingekehrt. Dann blieb die junge Brut dem Elend überlassen; die Kleinsten starben auf dem Pflaster vor Hunger und Kälte, die anderen flogen davon, dem Laster und dem Verbrechen entgegen. Eines Abends zog Pierre in der Rue de Charonne unter den Rädern eines Lastwagens zwei kleine Knaben hervor; es waren zwei Brüder, die ihm nicht einmal eine Adresse anzugeben vermochten, nicht wußten, woher sie kamen. Ein andermal brachte er ein kleines Mädchen heim, ein blondes, kaum dreijähriges Engelchen, das er auf einer Bank gefunden hatte; es sagte weinend, daß die Mama es dort allein gelassen habe. Später wandte er sich von diesen mageren, kläglichen, aus dem Neste gestoßenen Vögeln notgedrungen auch den Eltern zu, drang von der Straße in die dunklen Kammern, versenkte sich immer tiefer in diese Hölle und lernte zuletzt ihr ganzes Grauen kennen. Sein Herz blutete vor Angst, vor Entsetzen, im trauervollen Bewußtsein, daß seine Hilfe vergeblich sei.
Ach, was für furchtbare Wanderungen machte er während dieser zwei Jahre, die sein ganzes Wesen erschütterten, durch die jammervolle Behausung des Elends, den grundlosen Abgrund menschlichen Verfalles und menschlicher Leiden! In diesem Viertel
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