Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
doch existiert auch in der islamischen Welt eine Fremdenfeindlichkeit, die immer mehr insbesondere Christen entgegengebracht wird, und diesem Phänomen sollte meiner Ansicht nach ebenso sehr Rechnung getragen werden.
Allgemein neige ich allerdings dazu, das Tagesgeschehen nicht aus einem politischen, sondern eher aus einem kulturellen Blickwinkel zu sehen, da der Blick durch die politische Brille die Aussicht auf die Unendlichkeit des kulturellen Feldes unnötig verengt.
Literatur und Musik bilden die beiden Grundpfeiler meines Lebens, und ich habe es immer als Selbstverständlichkeit empfunden, mich in mehreren künstlerischen Disziplinen zu betätigen. In jungen Jahren las ich einmal Hanns Eislers Ausspruch »Wer nur von Musik etwas versteht, versteht auch davon nichts« und machte ihn mir zum Lebensmotto.
In der Antike trafen auf Samos einmal ionische und hellenische Philosophen zusammen und debattierten über den Zusammenhang zwischen den Künsten und den Wissenschaften, und sie kamen zu dem Schluss, die beiden stünden einander sehr nahe, und auf höchstem Niveau seien sie sogar ein und dasselbe.
Auf ein Letztes möchte ich noch hinweisen. Nachdem mein Roman Glückseligkeit in China erschienen war, bekam ich bei Veranstaltungen in Shanghai und Peking zu meiner großen Überraschung von chinesischen Journalisten immer wieder zu hören, das Buch sage auch viel über China aus, denn unsere beiden Länder wiesen im Spagat zwischen Tradition und Moderne viele Gemeinsamkeiten auf. Als man Anton Tschechow mitteilte, seine Bücher würden ins Französische übersetzt werden, soll er gesagt haben: »Aber ich erzähle doch vom Leben in Russland, wie können Franzosen das verstehen?«
Als bescheidener Lehrling Tschechows (und mit meinen 65 Jahren empfinde ich eine seltsame Freude daran, den schon mit 44 verstorbenen Tschechow als meinen Lehrmeister zu titulieren) habe ich meine Bücher für die Türkei geschrieben, doch in den 29 Ländern, in denen sie bisher erschienen sind, stoße ich immer wieder auf Reaktionen, die der oben geschilderten ähneln.
Meine verehrten deutschen Leser werden hoffentlich diese Erinnerungen nicht als Märchen aus einem exotischen Land auffassen, sondern als Teil des menschlichen Lebensabenteuers im 20. und 21. Jahrhundert. Also als Geschichte über den Menschen, mit seinen Schmerzen, seinen Freuden und seiner Liebe.
Istanbul, November 2010
M eine Großmutter hat mich einmal vor allen Leuten ein »Ziegenböcklein« genannt, und so klein ich war, spürte ich doch, dass damit nichts Böses gemeint war. »Die anderen Kinder sind Schafe, und mit ihren Schafsschwänzen verdecken sie jede Schuld, aber mein Böcklein kann das nicht. Wie eine Bergziege steht es ganz alleine da.«
Sie schaute bei diesen Worten wohl so traurig drein wie eh und je. Was sie mit dem Vergleich meinte, war mir natürlich damals nicht klar. Ich wusste nicht, was mich von anderen Kindern unterschied, doch meine Großmutter hatte mit ihrer Lebenserfahrung schon damals vorausgesehen, wie es mir im Leben ergehen würde. Immer wieder würde ich an ihre Worte zurückdenken müssen.
Damals in den fünfziger Jahren lebten wir in Ankara, in einem Viertel namens Kurtuluş, im Obergeschoss eines zweistöckigen Hauses. Mein Großvater, ein pensionierter Richter, nunmehr ganz dem Glauben ergeben, meine Großmutter, die wichtigste Beschützerin, zwei Jura studierende Onkel, meine Tante, die Tag und Nacht nähte, um zu unserem Unterhalt etwas beizutragen, und ich mussten in die kleine Wohnung passen, die gerade mal aus einem Wohnzimmer, zwei Schlafzimmern, einem Bad und einer winzigen Küche bestand.
Ich wohnte damals nicht mit meinen Eltern und meinen Geschwistern zusammen. Mein Vater wurde als Staatsanwalt immer wieder von Provinz zu Provinz versetzt, während ich die damals sehr angesehene Privatschule »Maarif Koleji« in Ankara absolvieren sollte. Bei meinen Großeltern zu leben war mir jedoch nichts Unvertrautes. Als ich drei war und mein Vater gerade in Fethiye arbeitete, kam mein Bruder Asım zur Welt, und da meine sehr geschwächte Mutter mit der Situation völlig überfordert war, wurde ich zu den Großeltern gebracht. Später gestand mir meine Mutter, sie habe sehr unter dieser Trennung gelitten und deswegen oft tagelang geweint.
Auch das Mobiliar unserer kleinen Wohnung habe ich als recht dürftig in Erinnerung. Unter den häufig versetzten Staatsbeamten zirkulierte der Spruch, zweimal umgezogen sei wie
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