Roman meines Lebens: Ein Europäer vom Bosporus (German Edition)
und her zu wechseln, und so ist auch nicht verwunderlich, dass ich bei meiner Begegnung mit Zeki Müren auch den kleinen Jungen vor mir sah, als der ich einst neben meiner Großmutter im Kino gesessen hatte.
Der Junge hätte nie gedacht, dass er einmal prominent sein würde, auch später noch nicht, als er ein junger Mann war. Dass sein Name weithin bekannt wurde, war lediglich eine Nebenerscheinung des Erlebten und sollte ihm viel Verdruss einbringen.
Nicht selten schreckte er dann aus dem Halbschlaf hoch, von der Frage geplagt, wie viele Menschen wohl gerade über ihn sprachen und urteilten. Sein Leben lang sollte er das eigentümliche Gefühl nicht loswerden, von den Leuten falsch verstanden zu werden. In einem Land, in dem es ungeheuer schwer ist, in der öffentlichen Meinung nicht ein verzerrtes Bild von sich zu finden, versuchte er immer wieder, das Joch der »Prominenz« abzuschütteln, doch sollte es jedes Mal nur noch schlimmer auf ihm lasten.
»Fällt kein so schnelles Urteil über mich!«, hätte er am liebsten gerufen. »Steckt mich nicht gleich in eine Schublade!«
Er entging aber nicht dem Schickal, das viele Künstler ereilt. Es erwuchs ihm eine Anzahl hartnäckiger Feinde, die zwar im Vergleich zu seinen Anhängern klein ausfiel, aber doch proportional zu jenen anstieg. So musste er damit leben, dass Aussagen von ihm verfälscht wurden und die wildesten Gerüchte aufkamen.
Wo aber stammte das »Ziegenböcklein« eigentlich her, das nie gedacht hätte, berühmt zu werden, und das doch einmal die Hand von Mutter und Großmutter loslassen und in die Welt hinaus treten musste?
Um das zu erfahren, muss man ins 19. Jahrhundert zurückgehen, und zwar zu Mülazım Ömer, der größten Legende unserer Familie.
Ö mer, mein Urgroßvater väterlicherseits, war der Sohn von Yusuf Ağa, der in Artvin (damals noch Livane genannt) im äußersten nordöstlichen Zipfel der heutigen Türkei als direkt dem Sultan weisungsgebundener Lokalherr lebte und Besitzer stattlicher Pferde war. Von den beiden anderen Söhnen Yusuf Ağas war einer ins Zarenreich gezogen, der andere verkrüppelt.
Im Russisch-Osmanischen Krieg von 1877/78 wurde das Dorf Yusuf Ağas von der russischen Armee umzingelt. Es gelang Yusuf Ağa, seinen Sohn Ömer aus dem Dorf zu schmuggeln und mit einem Brief an den Frontkommandanten Ahmet Muhtar Paşa nach Erzurum zu schicken. Zwei Tage darauf begannen die Kämpfe mit den russischen Truppen, bei denen das Dorf Yusuf Ağas völlig zerstört wurde. Von der Familie überlebte einzig und allein der nach Erzurum entsandte Ömer.
Der legendäre Ahmet Muhtar Paşa nahm sich Ömers an und machte ihn zu seinem Leibwächter. Im Winter wurde schließlich ein Waffenstillstand geschlossen, Ahmet Muhtar Paşa in den Westen des Reiches abberufen und durch einen anderen Kommandanten ersetzt, der auf den Rat seines Vorgängers hin Ömer in seine Dienste übernahm.
Erzurum hatte unter der russischen Besatzung sehr zu leiden. Als die Klagen der Bevölkerung überhand nahmen, beschloss Ömer zusammen mit zwei befreundeten Unteroffizieren, dem russischen Kommandanten aufzulauern. In einer eiskalten Nacht passten sie den Moment ab, als der eine Kneipe verließ, und erschossen ihn zusammen mit einem seiner beiden Leibwächter; dem anderen gelang die Flucht.
In Erzurum war daraufhin der Teufel los. Anhand der Angaben des entkommenen Leibwächters durchkämmten die Russen sämtliche türkischen Truppenteile, um die Attentäter zu fassen und hinzurichten. Ömer und seine Mitverschwörer wurden in einem Lazarett versteckt, wo sie nur so viel Nahrung zu sich nahmen, wie zum Überleben nötig war. Zudem rieben sie sich Tag für Tag Gesicht und Körper mit Teer ein. Als die Russen schließlich auch das Lazarett durchsuchten, trafen sie auf abgemagerte, fast schwarze Gestalten, die ihnen unverdächtig erschienen.
Dennoch schwebte Ömer noch immer in Gefahr. Der türkische Kommandant beförderte ihn deshalb zum Hauptmann und ließ ihn zu einem anderen Bataillon in das weiter westlich gelegene Harput versetzen. Dort ließ Ömer sich nieder und heiratete ein tschetschenisches Mädchen. Was sich anhört wie eine typisch osmanische Sage, nahm aber auch ein dementsprechend tragisches Ende, und Ömer fiel auf einem Feldzug. Er hinterließ seinen zehnjährigen Sohn Zülfikâr. (Die beiden Eltern hatten sich einen Sohn gewünscht, da ihnen aber lange keiner vergönnt war, hatten sie an einem nahe gelegenen Heiligengrab ein
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