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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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jedes Mal verschwiegen, welch schweren Seufzer dieser tapfer scherzhafte Ausruf nach sich zog. Denn schon damals, die Zwillinge an den Brüsten, musste sie sich mutterseelenallein entschließen, irgendwann, auf keinen Fall bald, aber auch nicht zu spät, einen weiteren, einen allerletzten Anlauf zur Zeugung der ersehnten Tochter zu unternehmen.
    Wäre der Zwillingskinderwagen inzwischen weiterverkauft oder verschenkt gewesen, hätte die Mutter versucht, einen Rollstuhl aus dem Josephinium auszuleihen. Denn davor, ihren Großen die angekündigten vier Wochen lang, also fast die ganzen Sommerferien hindurch, in der kleinen Wohnung herumliegen zu haben, hat es ihr sofort gegraust. «Ich kann den Fuß auch ambulant versorgen, wenn Sie mir Ihren Knaben zweimal die Woche zum Verbandswechsel in die Klinik bringen», schlug ihr Felsenbrecher vor, nachdem sie, spät verständigt, mit dem Fahrrad im Krankenhaus eingetroffen war, just in dem Moment, als das Bein fertig eingewickelt war und ihr Ältester die längst überfällige zweite Schmerzspritze in den Pomuskel bekommen hatte. Und dann raunte der Professor ihrem Sohn noch recht geheimnistuerisch ins Ohr: «Wir sind nämlich komplett belegt. Alles ist bombenvoll! Bloß im Keller, in der geschlossenen Abteilung, wo unsere armen Verrückten sich gegenseitig auf die Nerven gehen, da wäre noch ein Bettchen für dich frei.» Das war natürlich kein ernstgemeinter Vorschlag, sondern eine Überleitung à la Felsenbrecher. Sogleich folgte ein allerletzter Witz, die Geschichte von den zwei verrückten Männern, die glauben, miteinander verheiratet zu sein, aber sich nie einig werden können, wer von ihnen den Ehemann geben darf und wer die Ehefrau sein muss. Jetzt, im wasserklaren Vormittagslicht, kommt dem Älteren Bruder und der Mutter gleichzeitig, ohne dass sie dies jeweils vom anderen ahnen, der Witz samt seiner Pointe erneut in den Sinn. Beide hat der Kinderwagen draufgebracht. Denn im Witz geht es um das Kind, das sich die eingesperrten Männer in steiler Sehnsucht voneinander wünschen. Der Ältere Bruder versteht immer noch nicht genau, was daran lustig ist. Es muss eine dieserspeziellen Erwachsenensachen sein, so viel war ihm bereits im Josephinium klar, denn die Mutter warf dem Arzt, als der dröhnend loslachte, einen jener Blicke zu, von denen sie regelmäßig sagt, dass sie, wenn es auf dieser Welt gerecht zuginge, ruckzuck töten müssten.
    Nun klappt sie das Fußteil des Zwillingskinderwagens nach unten und legt eine Decke auf die verlängerte Liegefläche. Aber erst, als sie noch zwei Sofakissen aus der Wohnung herausgeholt hat und diese unter den Augen der herbeigelaufenen Hofkinder sorgsam als Lehne in den Wagen stopft, begreift unser großer Bruder endlich, was sie vorhat. Die Mutter bittet den Wolfskopf und den Schniefer, die Schiebestange festzuhalten, während sie ihn hineinhebt. Es wurmt ihn bis ins Mark, dass nun alle vollends erfassen, wie hilflos er ist, mit dieser Schiene, die übers Knie reicht, damit er das Bein möglichst ruhig hält, und dem mumiendicken Verband, unter dem es wild zu puckern anfängt, sobald der Fuß auch nur ein bisschen gehoben oder gesenkt wird.
    Dann ist er mit den Freunden allein. Die anderen, die zweitrangigen Kinder, die für sie nur in Betracht kommen, wenn man für ein Spiel recht viele Mittuende braucht, haben sich wieder an den Sandkasten und unter die Teppichstangen verzogen. Durch das offen stehende Küchenfenster hört er die Mutter mit den Witzigen Zwillingen reden. Die würden jetzt, wo die Ferien begonnen haben, bis in den Nachmittag hinein schlafen, wenn man sie ließe. Aber die Mutter hat sie aus ihrem Doppelstockbett gescheucht, und nun werden sie gezwungen, ihre Haferflocken mit Milch und Honig zu essen und ihren Tee zu trinken. Die beiden klagen wie immer darüber, dass ihnen kotzschlecht sei, dass ein besonders wichtiger Traum nicht an sein Ende gefunden habe und dass ihnendie riesigen, groben, nicht richtig plattgepressten Haferkörner im Schlund stecken blieben, ganz oben, wo es in ihren Hälsen eine besonders enge Stelle geben müsse. Aber obwohl die beiden jetzt sogar den Witz erzählen, in dem die Maus den Elefanten zum Essen einlädt, und die Mutter lachen muss, weil sie der neue Schluss, den die Zwilinge aus dem Nichts oder aus der milchweißen Tiefe ihrer Teller ziehen, überrascht und entzückt, wird sie den beiden nicht eine einzige der langsam matschig werdenden Flocken erlassen. Der Ältere Bruder

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