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Roman unserer Kindheit

Roman unserer Kindheit

Titel: Roman unserer Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Klein
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betreibe. Zu diesem Scherz wird er sein extradoofes Grinsen aufsetzen und ausnahmsweise komplett hochschniefen, was ihm sonst als ein mehr oder minder erstarrter, perlmuttartig glänzender Tropfen unter dem linken Nasenloch zu hängen pflegt. So lustig darf es dann schon wieder, nach einer einzigen Nacht im Räderwerk der Traummühle, zwischen den Freunden zugehen. Noch aber klemmt der Arm des Schniefers unter der linken Achsel des Blutenden. Noch fällt weder ihm noch dem Ami-Michi, der auf der anderen Seite zugepackthat, ein ulkiger Spruch ein, noch kreist den Spielgefährten unseres großen Bruders das blecherne Scheppern im Ohr und dazu ein Schleifgeräusch, dessen ungute Obertöne, dessen sekundenkurz aufschrillende Bosheit nun als Erstes vergessen werden muss.
    Während er sich zum dritten Mal an diesem Sprechstundenvormittag die Hände wäscht, beobachtet Ernst Junghanns, Arzt für Allgemeinmedizin, durch das Fenster des vorderen Behandlungszimmers drei Buben und ein Mädchen, die einen etwa Zehnjährigen Richtung Praxistür schleppen. Wie der Springteufel aus der Schachtel schnellt ihm ein anderer Sommertag vor dieses Bild. In einem ähnlich gleißenden, in einem vergleichbar mit seiner Reinheit protzenden Sonnenlicht wurde an einem Pariser Augustsonntag ein übel Verletzter quer über den Hof der weit offen stehenden Tür des Militärarztes Junghanns entgegengetragen. Zuvor hatte es von der Straße her mehr gepufft denn gekracht. Die französische Bombe, ein mickriges, dilettantisch zusammengebasteltes Ding, war von einem Motorrad aus auf die Wache am Portal geschleudert worden. Der Verwundete stand unter Schock, brachte keinen Ton heraus, zuckte nur spastisch mit den Gliedern. Einer seiner Kameraden stützte ihm den Kopf, ungefähr so, wie da draußen das Mädchen die Hände unter den Nacken des Knaben geschoben hat, der bloß am linken Fuß eine Sandale trägt.
    Das Übereinander der Szenen, ihre historische Transparenz, nimmt den alten Arzt in den Würgegriff der Wehmut. Dieser Krieg, sein zweiter und vermutlich letzter, jene dreieinhalb Jahre in der Hauptstadt der Hauptstädte waren das edelsüße, das marzipangefüllte Stück seines Lebenskuchens. Für einen Moment kapiert Junghanns, dass es ander Zeit wäre, mit dem Praktizieren Schluss zu machen. Aber schon hat er den Gedanken samt der Rührseligkeit, die ihn unterfüttert, abgeschüttelt, versucht stattdessen sich zu entsinnen, wie der eine oder der andere dieser Buben oder zumindest das Mädchen, das nun die Haustür aufzieht, heißt. Bestimmt kennt er sie alle. Er ist der Onkel Doktor der Neuen Siedlung, er hat sie in Oberarm und Gesäßmuskel gepikst, ihre munter rasselnden Bronchien belauscht, ihre Wunden genäht, verbunden oder verpflastert. Doch selbst, als sie dann mit geröteten Gesichtern vor ihm stehen, während er sie ausgiebig für ihr entschlossenes Handeln lobt, sie gute Kameraden nennt und ihnen seine Worte das unübersehbar schlechte Gewissen, die Angst vor dem kommendem Ärger mit den Eltern mindern, fällt ihm kein einziger Name ein. Den mit der glasigen Rotzglocke kennt er am besten, mehrfach hat er ihn bei früheren Begegnungen aufgefordert, sich die Nase zu putzen. Und jedes Mal verblüffte ihn der kleine Schmutzfink damit, dass er bereitwillig ein lupenrein sauberes, hellblaues Taschentuch zückte. An das Blau des Stoffes kann Junghanns sich erinnern, aber den Namen des Bengels zieht ihm die Farbe nun nicht herbei. Nur, wie der hieß, dem er damals unter beschwörendem Gemurmel mit der Pinzette einen französischen Blechsplitter nach dem anderen aus dem Fleisch zupfte, das hätte er sich heute, nach gut zwei Jahrzehnten, vor jedem Gericht, notfalls auch unter Eid, auszusagen getraut.
     
    Am späten Nachmittag liegt der Ältere Bruder im Schlafzimmer der Eltern. Die Vorhänge sind zugezogen, die Tür zur Wohnküche ist angelehnt. Drüben strengen sich die Mutter und die Brüder an, ihn nicht zu stören. Sogar das Radio mussflüstern. Die Witzigen Zwillinge dürfen, obwohl sie erneut darum betteln, nicht zu ihm herein. Unser großer Bruder soll ein wenig schlafen, zumindest dösen, solang die zweite Spritze, die er im Krankenhaus bekommen hat, noch wirkt. Aber der Frieden, den das Schmerzmittel gestiftet hat, ist erneut nicht von langer Dauer gewesen. Die selige Taubheit im Fuß und das schummrige Blödsein im Kopf haben kaum über die Heimfahrt mit dem Taxi hinaus angehalten. Längst tobt in seinem Fuß ein Gemetzel. Bei

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