Ronja Räubertochter
ihre eiskalten Hände vors Feuer.
6.
IN DIESER NACHT FIEL DER SCHNEE SO DICHT AUT DIE MATTISBURG und die Wälder ringsum, daß nicht einmal Glatzen-Per sich an Schlimmeres erinnern konnte. Vier Mann waren nötig, um das schwere Burgtor auch nur so weit aufzuschieben, daß man sich hindurchzwängen und die größten Schneewehen wegschaufeln konnte. Sogar Glatzen-Per steckte die Nase hinaus und besah sich die öde weiße Landschaft, wo alles unter Schnee begraben lag. Die Wolfsklamm war völlig zugemauert. Wenn das mit dem Schneetreiben so weitergehe, meinte er, dann werde man durch diesen Hohlweg wohl erst im Frühjahr wieder durchkommen.
»Du, Fjosok«, sagte er, »wenn Schneeschaufeln dein größtes Vergnügen ist, dann versprech ich dir eine lustige Zeit.« Was Glatzen-Per voraussagte, war meistens richtig, und auch diesmal bekam er recht. Lange Zeit fiel der Schnee Tag und Nacht unablässig vom Himmel herunter. Die Räuber schrien und fluchten, aber etwas Gutes brachte der Schnee wenigstens mit sich: Wegen dieses Borkagesindels brauchte man weder an der Wolfsklamm noch am Höllenschlund Wache zu stehen, »Eins steht fest, Borka ist dümmer als ein Ochse«, sagte Mattis. »Aber so unmenschlich dumm ist er wohl doch nicht, daß er in Schneewehen kämpfen will, die ihm bis unter die Achseln reichen.«
So dumm war auch Mattis nicht. Im übrigen kümmerte er sich zur Zeit nicht viel um Borka. Er hatte jetzt größere Sorgen. Ronja war krank, zum erstenmal in ihrem Leben. Am Morgen nach dem Tag im Winterwald, der um ein Haar ihr letzter geworden wäre, erwachte sie mit hohem Fieber und stellte verwundert fest daß sie gar keine Lust hatte aufzustehen und wie sonst zu leben.
»Was ist los mit dir?« schrie Mattis und warf sich neben ihren Bett auf die Knie.
»Was sagst du denn da? Du bist doch nicht etwa krank?«
Er nahm ihre Hand und fühlte, wie heiß sie war. Das Mädchen glühte ja am ganzen Leibe, und ihm wurde himmelangst. Noch nie hatte er sie so gesehen.
Frisch und munter war sie ihr Lebtag gewesen. Und jetzt lag sie da, seine Tochter, die er so sehr liebte, und er wußte es gleich! Er wußte, wie es enden würde! Ronja würde ihm genommen werden, sie würde sterben, er spürte es, und das Herz tat ihm weh. Er wußte nicht aus noch ein in seinem wahnsinnigen Schmerz, am liebsten wäre er mit dem Kopf gegen die Wand gerannt und hätte wie üblich gebrüllt. Aber er durfte das arme Kind nicht erschrecken, so viel Vernunft hatte er trotz allem noch. Deshalb legte er ihr nur die Hand auf die glühheiße Stirn und brummelte:
»Gut, daß du dich warm hältst, Ronjakind! Das muß man-wenn man krank ist.«
Aber Ronja kannte ihren Vater, und trotz des Fiebers, das in ihr brannte, versuchte sie ihn zu trösten. »Stell dich nicht so an, Mattis! Das bißchen Fieber ist doch nichts. Es hätte weit schlimmer kommen können.« Es hatte so schlimm kommen können, daß ich den ganzen Winter lang bis zum Frühjahr draußen im Wald unter der Schneedecke gelegen hätte, dachte sie. Armer Mattis! Wieder stellte sie sich vor, wie ihn das getroffen hätte, und Tränen traten ihr in die Augen.
Mattis sah es, und er glaubte, sie trauere darüber, daß sie so jung sterben müsse.
»Mein Kindchen, natürlich wirst du wieder gesund, nun wein doch nicht«, sagte er und unterdrückte mühsam sein Schluchzen. »Aber wo steckt denn bloß deine Mutter?« schrie er dann und stürzte weinend zur Tür.
Wieso um alles in der Welt war denn Lovis mit ihren fieberstillenden Kräutern noch nicht zur Stelle, jetzt, wo Ronjas Leben an einem Faden hing, das wollte er doch gern wissen! Er suchte sie im Schafstall, doch da war sie nicht. Die Schafe blökten hungrig in ihrem Verschlag, merkten aber bald, daß nicht der richtige Mensch gekommen war. Dieser hier legte seinen Zottelkopf auf den obersten Balken und weinte so herzzerreißend, daß sie alle ganz verstört waren. Mattis weinte und schluchzte weiter, bis Lovis, die ihre Hühner und Ziegen versorgt hatte, endlich in den Stall kam. Da brüllte er:
»Weib, warum bist du nicht bei deinem kranken Kind?« »Hab ich ein krankes Kind?« fragte Lovis gelassen. »Davon weiß ich gar nichts. Aber sobald ich den Schafen ihr Futter ...«
»Das mach ich! Lauf zu Ronja!« schrie er, und ein wenig leiser schnorchelte er:
»Falls sie noch lebt!«
Nachdem Lovis gegangen war, schleppte er ganze Büschel von Espenzweigen aus dem Schuppen herbei und fütterte die Schafe und klagte ihnen sein
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