Ronja Räubertochter
traurig, meine Schwester.«
»Worüber?« fragte Ronja.
»Ich bin traurig darüber, daß du nur dann ganz und gar meine Schwester bist, wenn der Glupafall nach dir ruft, sonst aber nicht. Nicht wenn dein Vater durch seine Boten nach dir ruft. Und darum benehme ich mich wie ein Lump, und auch darüber bin ich traurig, wenn du es wissen willst.«
Wer ist nicht traurig, dachte Ronja. Muß ich nicht traurig sein, ich, die es keinem recht machen kann?
»Und doch hab ich kein Recht, es dir vorzuwerfen«, fuhr Birk fort.
»Es muß so sein, das weiß ich.«
Ronja sah ihn scheu an.
»Willst du trotzdem mein Bruder sein?«
»Das ist es ja gerade«, sagte Birk.
»Ich bin dein Bruder ganz und gar und für immer, und das weißt du! Aber jetzt sollst du auch wissen, warum ich diesen Sommer in Frieden leben möchte, ohne Boten von der Mattisburg, und warum ich es nicht ertrage, vom Winter zu sprechen.«
Wahrhaftig, es gab nichts, was Ronja lieber wissen wollte. Viel hatte sie darüber gegrübelt, warum Birk sich nicht vor dem Winter fürchtete.
»Jetzt ist Sommer, meine Schwester«, das sagte er so ruhig, als käme nie ein Winter.
»Wir haben nur diesen Sommer, du und ich«, sagte Birk.
»Und mit mir ist es nun einmal so, daß mir das Leben nichts mehr wert ist, wenn du nicht bei mir bist. Und wenn der Winter kommt, dann bist du nicht mehr bei mir. Dann kehrst du zurück in die Mattisburg.«
»Und du?« fragte Ronja, »Wo willst du dann sein?«
»Hier«, antwortete Birk.
»Natürlich kann ich darum betteln, daß ich in die Borkafeste zurück darf, und man würde mich nicht von der Tür weisen, das weiß ich. Aber was nützt mir das? Dich habe ich dann doch verloren. Ich würde dich nicht einmal mehr sehen. Darum bleibe ich in der Bärenhöhle.«
»Und erfrierst«, sagte Ronja. Birk lachte auf.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht! Ich habe mir ausgerechnet, daß du ja ab und zu auf Skiern mit etwas Brot und Salz und meinem Wolfspelz kommen könntest falls du den aus der Borkafeste rausschmuggeln kannst.«
Ronja schüttelte den Kopf.
»Wenn es so wird wie im letzten Winter, ist an Skilaufen nicht zu denken. Dann komm ich nicht mal durch die Wolfsklamm. Und wird es so wie im letzten Winter und du wohnst in der Bärenhöhle, dann ist es aus mit dir, Birk Borkasohn!«
»Dann ist es eben aus«, sagte Birk.
»Aber jetzt ist Sommer, meine Schwester.«
Ronja sah ihn ernst an.
»Sommer oder Winter - wer hat gesagt, daß ich in die Mattisburg zurückkehre?«
»Ich«, sagte Birk, »und wenn ich dich mit meinen eigenen Händen dahintragen muß. Totfrieren werde ich allein, wenn es sein muß. Aber jetzt ist Sommer, hab ich gesagt!«
Ewig währte der Sommer nicht das wußte er, und das wußte Ronja. Doch jetzt begannen sie zu leben, als wäre es so, und so gut es ging, schoben sie alle quälenden Wintergedanken rort. Jede Stunde, vom Morgengrauen bis zur Dämmerung und Nacht, wollten sie diesen Sommer genießen. Die Tage mochten kommen und gehen, sie lebten in einem Sommerrausch, ohne sich Sorgen zu machen. Noch hatten sie eine kurze Zeit für sich.
»Und nichts soll uns die verderben«, sagte Birk. Darin stimmte Ronja ihm zu.
»Ich sauge den Sommer in mich ein wie die Wildbienen den Honig«, sagte sie.
»Ich sammle mir einen großen Sommerklumpen zusammen, und von dem werde ich leben, wenn ... wenn es nicht mehr Sommer ist. Und weißt du, woraus der besteht?«
Und sie erzählte es Birk.
»Es ist ein einziger großer Kuchen aus Sonnenaufgängen und Blaubeerreisig mit reifen Beeren und Sommersprossen, die du auf den Armen hast, und abendlichem Mondschein über dem Fluß und Sternenhimmel und Wald in der Mittagshitze. Voll von Sonnenlicht auf den Fichten und kleinen Regenschauern und all so was. Und voller Eichhörnchen und Füchse und Hasen und Elche und dazu alle Wildpferde, die wir kennen. Und auch noch unser Schwimmen und Reiten im Wald, ja, da hörst du, daß mein großer Kuchen aus allem besteht, was Sommer ist.«
»Eine tüchtige Sommerbäckerin bist du«, sagte Birk.
»Mach nur weiter so!«
Von früh bis spät waren sie in ihrem Wald. Sie fischten und jagten, das mußten sie für ihren Unterhalt, doch sonst lebten sie friedlich mit allem Getier. Sie wanderten weite Wege, um Rehe und Füchse und Vögel zu beobachten, sie kletterten auf Berge und Bäume, sie ritten, und sie schwammen in kleinen Waldseen, wo keine Druden sie störten - und die Sommertage gingen dahin. Die Luft wurde klarer und kühler. Es
Weitere Kostenlose Bücher