Room 27 - Zur falschen Zeit am falschen Ort
lächelte Martijn in seinem neuen spanischen Haus, ein wenig langsamer und verschwommener als in Wirklichkeit.
»Bruder.« Ich grinste zurück. Wahrscheinlich auch etwas unscharf und träger als sonst, aber reden ging immer noch schneller als tippen.
Martijn ist zehn Jahre älter als ich. Eigentlich sind wir keine Brüder, sondern Halbbrüder – derselbe Vater, andere Mutter –, lange Geschichte.
»Hast du sie?«, fragte Martijn.
Ich hielt sie an den Schnürsenkeln hoch. Meine nagelneuen Bergschuhe. »Aus wasserdichtem und doch atmungsaktivem Gore-Tex®«, imitierte ich den übermäßig begeisterten Verkäufer.
»Aber einlaufen«, sagte Martijn. »Sonst bekommst du bombensicher Blasen.«
Ich zog sie sofort an und hielt meine beschuhten Füße vor die Webcam. »Die bleiben jetzt an den Füßen, bis ich in Spanien bin. Ich gehe damit schlafen und duschen.«
Er grinste. »Ein laufen. Der Rest hat wenig Sinn.«
Ich stellte die Sohlen mit dem dicken Profil wieder auf dem Boden ab. »Hast du die Strecke schon ausgetüftelt?«
»Moment, ich hole gerade die Karte.«
Die noch kahle Wohnzimmerwand kam ins Bild. Ein paar Tage zuvor hatte Martijn sein kleines Appartement in der Stadtmitte gegen einen Bungalow in einem ruhigen und bewachten Vorortviertel eingetauscht. Man könnte sagen, er sei für seine Arbeit umgezogen, aber eigentlich war er nur geflohen.
Nach der Schauspielschule war alles noch normal; Martijn spielte in ein paar Werbefilmen und modelte ein wenig. Das Elend hatte vor einem halben Jahr angefangen, als er zum exklusiven Gesicht von Deseo wurde, einer spanischen Herrenduftlinie. Plötzlich konnte er nicht einmal mehr einkaufen gehen, ohne angesprochen zu werden. Wirklich, man glaubt kaum, wie ungehobelt manche Leute sein können. Sie wollten mit ihm fotografiert werden, in seine Muskeln zwicken, ihn beschnuppern und fühlen, ob sein sagenhaftes Sixpack – im bekanntesten Spot robbt er nur mit Jeans bekleidet aus dem Meer – keine Trickaufnahme war. Wenn Martijn sich weigerte, wurden sie manchmal sogar wütend. Er versuchte, sich noch eine Zeit lang mit Sonnenbrillen, Baseballkappen und Kapuzen zu vermummen, aber es gab immer jemanden, der vollkommen hysterisch wurde, wenn er vorbeiging. In seinem neuen Haus ließ man ihn wenigstens in Ruhe, sagte Martijn. Die Nachbarn im Viertel legten wie er viel Wert auf ihre Privatsphäre und ein Schlagbaum mit Pförtner hielt alle unerwünschten Besucher vom Gelände.
»Da bin ich wieder.« Martijn setzte sich und hielt sich die Karte vor die Brust. »Wir lassen das Auto in Torla.« Er zeigte auf einen winzigen Punkt. »Dort beginnt unsere Wanderung.« Sein Zeigefinger glitt über ein Stückchen Schlängellinie in einem braunen Flecken – die Pyrenäen. »Wir folgen hauptsächlich dem Großen Wanderweg 11. Je höher wir kommen, desto schwieriger wird es.« Dabei machte er ein Gesicht, als könne er sich nichts Schöneres vorstellen, was wahrscheinlich auch stimmte. »Mittags kann es in den Bergen einen gewaltigen Spuk geben. Wenn es regnet oder gewittert, sucht man besser in einer Berghütte oder im Zelt Schutz. Darum stehen wir jeden Morgen ganz früh auf, damit wir doch ausreichend Kilometer schaffen.«
»Ähem.« Ich verdrehte die Augen. »Und ich dachte, Ferien wären zum Ausschlafen da!«
»Faultier.« Er legte die Karte neben sich auf den Tisch. »Du wirst sehen, wie großartig das wird: Sich erst richtig ins Zeug legen und dann schön was kochen.«
Auf meiner Netzhaut erschien das Bild eines Kuriers, der auf einem Motorroller durch die Berge flitzt. »Können wir uns nicht einfach eine Pizza kommen lassen?«
Er kicherte. »Und wie wolltest du die bestellen? Wir sind mitten in der Natur, an abgelegenen Stellen, wo dein Handy oft keinen Empfang hat.«
Ich wusste nicht einmal, dass es solche Orte noch gab. »Und wenn sich zum Beispiel einer von uns den Knöchel verstaucht?«
»Holt der andere Hilfe.«
»Und wenn ich mich dann verirre?«
»Tja.« Sein rechter Mundwinkel verzog sich spöttisch nach oben. »Dann fressen uns die Wölfe.«
»Haha.«
»Ich trage das Zelt und den Erste-Hilfe-Koffer«, versprach er. »Und wenn es nötig ist, werfe ich mir dich über die Schulter.«
Das würde er sogar schaffen. Martijn trainierte jeden Tag, um seinen muskulösen Körper in Form zu halten. Dass er kein Gramm zunehmen dürfe, stand in seinem Vertrag.
Für Martijn war die gesamte Werbekampagne übrigens nur eine Methode, schnell Geld zu verdienen.
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