Rot
Holztreppe, die zum Dachboden hinauf führt, und plötzlich glimmt ein Fünkchen Hoffnung. Vielleicht gelange ich über das Dach in ein anderes Gebäude und kann entkommen.
So schnell bin ich noch nie gerannt, die kurze Strecke bis zur Bodentreppe kommt mir vor wie ein Marathon, mitten in der Halle höre ich aus einem der Räume hinter den Türen einen schrillen Schrei meiner Mutter, ich würde lieber stehen bleiben, muss aber weiter. Die Bretter knarren, als ich die Treppe zur Bodentür hinaufsteige. Die ist verschlossen. Mit einem verrosteten, altersschwachen Vorhängeschloss. Ich ziehe mit aller Kraft, und sofort lösen sich die Schrauben aus dem Türrahmen, ich stopfe sie mitsamt dem Schloss in die Hosentasche, betrete den Dachboden und schließe die Tür. In meinem Kopf dröhnt es, und ich habe einen metallischen Geschmack im Mund.
Die Dachluke befindet sich neben der Brandmauer. An den Wänden des riesigen Raumes sind Kisten gestapelt, ich zerre zwei unter das kleine Fenster, klettere voller Hoffnung hinauf und stoße die Luke auf. Sie klappt hoch und kracht dann dröhnend auf das Blechdach, ich erstarre. Gott sei Dank sind keine Schritte zu hören. Ich ziehe mich hoch auf das Flachdach, richte mich auf und fluche: Es gibt keinerlei Verbindung zu irgendeinem anderen Gebäude. Trotzdem gehe ich an der Dachkante entlang und sehe nach, ob nicht doch daneben ein niedrigeres Haus steht, auf das ich springen könnte. Nein, nichts. Vor Enttäuschung bekomme ich feuchte Augen, ich muss das Dach wieder verlassen, nie zuvor ist mir etwas so schwergefallen.
Die ersten Stunden auf dem Dachboden vergehen quälend langsam. Ich sitze neben der Tür und bin zu einer Verzweiflungstat entschlossen, sobald man mich findet. Plötzlich ertönt ein gellender Schmerzensschrei meines Vaters, mir bleibt fast das Herz stehen. Die Rufe nehmen kein Ende, ich gehe gebückt auf dem Bohlenfußboden hin und her, bis ich die Stelle geortet habe, wo man sie am deutlichsten hört. Zwischen der Brandmauer und den Dielen ist der Beton bröckelig. Ich hole meine Schlüssel aus der Hosentasche und stoße den mit den schärfsten Kanten in den Beton, der auch schnell bricht. Fieberhaft bohre ich weiter, obwohl mir nicht klar ist, warum ich unbedingtsehen will, wie Vater gefoltert wird. Schließlich durchsticht die Schlüsselspitze die Decke und feine Putzstückchen rieseln hinab. Ich halte den Atem an und rühre mich nicht von der Stelle. Vater schreit nicht mehr. Dann hört man, wie unten eine Stahltür knarrt, hat Vaters Peiniger den herabfallenden Putz bemerkt? Ich verstecke mich hinter den Kisten und zittere vor Angst.
Es dauert lange, bis ich mich traue, an das Loch zurückzukehren. Ich presse das Gesicht auf den Boden, schaue mit einem Auge hinunter und schrecke zusammen: Vater ist blutüberströmt und sitzt anscheinend nur noch auf dem Metallstuhl, weil man ihn festgebunden hat. Ich unterdrücke die Tränen und schlucke die aufsteigende Übelkeit. Dann überlege ich kurz, ob ich es riskieren soll, Vater etwas zu sagen, ihm mitzuteilen, dass ich frei bin. Würde das helfen? Ich beschließe, zu schweigen, in dem Zustand könnte Vater meine Worte ohnehin schwerlich begreifen, schlimmstenfalls erzählt er womöglich seinem Folterer von den Geräuschen. Ich lege mich auf den Fußboden.
Mein Puls beruhigt sich erst nach einer Ewigkeit, dann überkommt mich Müdigkeit. Ich kämpfe gegen den Schlaf an, bis unten Metall klirrt – die Tür des Folterraumes geht auf. Ich drücke ein Auge auf das Loch im Boden und wage kaum zu atmen, schon bei dem Gedanken, was passiert, wenn man mich entdeckt und fasst, wird mir angst. Manas kommt herein, als würde er sein Büro betreten: ganz ruhig und ohne eine Miene zu verziehen. Ich kann ihm beim Foltern immer nur kurz zuschauen, dann muss ich erst einmal wegsehen. Manas schlägt mit einem Stahlrohr auf Vater ein, als würde er einen Teppich klopfen oder Holz hacken. Der Gesichtsausdruck des Kirgisen gleicht einer Maske, er ändert sich nicht einen Deut.
Diese Tortur wiederholt sich Stunde für Stunde, zwischendurch legt Manas kurze Pausen ein, es lässt sich schwer einschätzen, wie viel Zeit jedes Mal vergeht. Ich wage nicht zu schlafen, aus Furcht, ich könnte im Traum vor Entsetzen schreien. Als der Abend anbricht, wird es auf dem Dachboden eisig kalt, vergeblich suche ich inden Kisten irgendetwas, womit ich mich zudecken könnte. Nachts gefriert mir der Atem. Zuweilen kommen mir ganz unversehens die
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